Die Errettung der Wirklichkeit

■ Gegen die Abrichtung der Zuschauer: das Filmessay „Herbsten“ im Metropolis

Dokumentarfilme sollen die Wirklichkeit in ihrer Komplexität erkennbar machen, so lautet die Erwartung an diese filmische Gattung. Wenn sich ein Film zumindest oberflächlich diesem Paradigma verweigert, wird es mit der Klassifizierung schwierig. Herbsten, der Titel bezeichnet den regionalen Ausdruck für die Weinlese, dokumentiert zwar die Weinernte in der Südpfalz, verzichtet aber auf Kommentar und Interview und vertraut ganz auf die Kraft der Bilder. Er zeigt die Handgriffe der Arbeit und die riesigen Erntemaschinen, den morgennebligen Weinberg und die verlassene Dorfstraße, die zu kelternden Trauben und Reben vor kargen Hauswänden – er bildet disparate Facetten der Wirklichkeit kommentarlos nebeneinander ab.

Regisseur Michael Schorr, der an der Potsdamer Filmhochschule studiert hat, läßt sich beobachtend auf sein Objekt ein und verdeutlicht, daß dokumentarisches Arbeiten auch, um mit Kracauer zu sprechen, „die Errettung der äußeren Wirklichkeit“ sein kann. Er bildet Vorgefundenes ab, doch wählt er mit einem solch offenkundig erkennbaren Willen aus der Realität aus, daß deutlich wird, wie sehr Dokumentarfilme erst Wirklichkeit erschaffen und konstruieren. Wenn der Kommentar fehlt, der den Bedeutungsüberschuß der Bilder reduziert und eine Verbindung zwischen ihnen schafft, dann kommt dem Schnitt die entscheidende Aufgabe zu, ein Ganzes entstehen zu lassen. Und es ist der Schnitt, der noch verstörender ist als die Auswahl der Einstellungen, das Nebeneinander von unterschiedlichen Elementen, das scheinbar zu lange Stehenlassen von vermeintlich unwichtigen Filmbildern, die wie Standfotos wirken. Ein ganz eigener Rhythmus entsteht so, der nicht unbedingt Lehrreiches über die Weinernte erzählt, sondern sich seine ganz eigene Form zwischen Dokumentation und Essay schafft und offenlegt, wie sehr wir als Zuschauer abgerichtet sind, einer Erzählstimme zu folgen.

Malte Hagener

morgen, 17 Uhr; Freitag, 19 Uhr, Metropolis