Ein wackeliger Regierungsstuhl

■ Die Türkei bekommt eine neue Regierung. Nach langem Gezerre wurde gestern der Sozialdemokrat Bülent Ecevit mit der Neubildung einer Regierungsmannschaft beauftragt. Bis zu den Neuwahlen im April soll der national gesinnte Ecevit die Staatsgeschäfte übernehmen

In ihrer Neujahrausgabe räumte die linksliberale Tageszeitung Radikal die Titelseite für eine Karikatur frei, auf der den führenden Politikern ihr wichtigster Wunsch für das neue Jahr in den Mund gelegt wurde. Während Bülent Ecevits Traum, vor seinem Tode noch einmal eine Regierung bilden zu dürfen, wider Erwarten in Erfüllung geht, muß der gestürzte Ministerpräsident Mesut Yilmaz weiter auf die Erfüllung seines Herzenswunsches warten: Er träumt davon, ein Auslieferungsersuchen an die US- Regierung zu unterschreiben, in dem diese ersucht wird, seine geflohene Erzrivalin Tansu Çiller in Handschellen zurückzuschicken.

Die triste Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Statt Tansu Çiller in den Knast zu schicken, muß Mesut Yilmaz die Zähne zusammenbeißen und mit ihr gemeinsam dem gestern ernannten Ministerpräsidenten Bülent Ecevit eine parlamentarische Mehrheit verschaffen. Warum Yilmaz und Çiller, die sich auch persönlich nur alles Schlechte an den Hals wünschen, nach sechs Wochen des Taktierens und persönlicher Rempeleien nun doch an einem Strang ziehen, hat viele Gründe; der wichtigste: beide hoffen, bei den Wahlen am 18. April den jeweils anderen abhängen zu können. Voraussetzung dafür ist, daß die Wahlen überhaupt stattfinden, was lange umstritten war und gerade in der letzten Woche noch einmal gefährdet schien.

Nachdem Ecevit bei seinem ersten Anlauf, eine Regierung zu bilden, im Dezember gescheitert war, hatte Präsident Demirel den Industrie- und Handelsminister Yalim Erez mit der Regierungbildung beauftragt. Erez ist parteilos, aber keineswegs unparteiisch. Er ist der Mann, der für die Militärs im Frühjahr 1997 den islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan stürzte. Erbakan regierte zusammen mit der Partei des Rechten Weges (DYP) von Çiller. Damals war Erez ebenfalls Industrieminister und engster Verbündeter Çillers. Als Çiller sich dem Druck der Militärs, die Koalition mit Erbakan aufzukündigen und so die Islamisten zu stürzen, widersetzte, zettelte Erez einen parteiinternen Aufstand an und verließ mit anderen Abgeordneten die DYP. Çiller und Erbakan hatten keine Mehrheit mehr, Erez bekam als Lohn in der neuen Regierung das Industrieministerium wieder, und Erbakan und seine Wohlfahrtspartei wurden verboten.

Kein Wunder, daß bei Tansu Çiller alle Alarmglocken läuteten, als Erez kurz vor dem Jahreswechsel den Auftrag zur Regierungsbildung bekam. Sie befürchtet, daß Erez erneut falschspielen könnte und, statt die Wahlen für April vorzubereiten, sie im Auftrag der Militärs verschieben könnte.

Es ist kein Geheimnis, daß die mächtigen Militärs, aber auch die Großindustrie die kommenden Wahlen nicht wollen. Das Hauptargument der Industrie ist die Kontinuität des schlechten Status quo. Die Verbandssprecher sagen ganz offen, das Land wird durch den Wahlkampf nur für Monate lahmgelegt, um dann dasselbe zu bekommen, was es jetzt schon hat: eine wackelige Koalitionsregierung von Leuten, die nur deshalb zusammengehen, weil sie sich gegen jemand anderen verbünden. Das Militär hat vor allem ein Ziel: Die Islamisten sollen keinen politischen Einfluß bekommen. Bei den nächsten Wahlen wird die Nachfolgepartei der verbotenen Wohlfahrtspartei, die Fazilet – was soviel wie Tugendpartei heißt – antreten. Was passiert, wenn die Fazilet wieder stärkste Fraktion wird und gegen sie keine stabile Regierung gebildet werden kann?

Die Türkei lebt in der Phase des „28. Februar“. Am 28. Februar 1997 hatten die Militärs sich öffentlich gegen die damalige Regierung Erbakan gewandt und die Islamisten davor gewarnt, den Grundsatz des Laizismus zu verletzen. Alles, was danach folgte, steht unter dem damaligen Verdikt. Jeder türkische Politiker weiß seit dem „28. Februar“, daß eine Regierungsbeteiligung der Islamisten vom Generalstab nicht akzeptiert wird.

Eine vorübergehende Lösung wäre es, wenn die beiden Rechtsparteien DYP von Tansu Çiller und die Anap von Mesut Yilmaz zusammengehen würden. Doch da ist Tansu Çiller vor: sie fürchtet, in diesem Fall, aufgrund des leichten Übergewichts der Anap, dann abserviert zu werden und – siehe Yilmaz Traum – im Knast zu landen.

Die Linke ist, obwohl Ecevit vorübergehend als Ministerpräsident amtieren wird, seit Jahren chronisch schwach. Der kemalistische Staatsbürokratismus, dem sowohl Ecevit als auch sein Konkurrent Deniz Baykal anhängen, hat sich überlebt und hat für die wirtschaftlichen Probleme keine adäquate Antwort mehr. Das Land hatte darüber hinaus trotz seiner Politiker in den letzten Jahren eine wirtschaftliche Prosperitätsphase, von der auch die mittleren und unteren Einkommen ein wenig profitieren konnten, so daß der soziale Druck nicht mehr so groß wie noch vor zehn Jahren ist.

Auf die beiden wichtigsten Fragen des Landes, wie die kurdische Minderheit befriedet und der politische Islam integriert werden kann, haben weder die amtierenden FührerInnen der Rechten wie der Linken eine Antwort. Seit Jahren hinken die Parteien hinter der gesellschaftlichen Entwicklung her. Das hat auch damit zu tun, daß die Parteien, mit Ausnahme der islamischen Fazilet, immer noch eher der Befriedigung eines traditionellen Klientelsystem dienen als der Organisation einer weltanschaulichen Konkurrenz. Das wird auch an der Kür der Kandidaten deutlich. Bei den Wahlen im April wird nicht nur das nationale Parlament, sondern auch sämtliche kommunalen Vertretungen gewählt, insgesamt mehr als 200.000 Posten, die zu vergeben sind.

Bis auf die Anap, die bei den Wahlen einen Vorstoß in innerparteilicher Demokratie machen will, werden in den anderen Parteien die Kandidaten von den Parteiführern zentral festgelegt. Bei der Kandidatenkür wird Wohlverhalten belohnt und dem Kandidaten die Chance geboten, seine Schäfchen in der kommenden Legislaturperiode ins trockene zu bringen. Übrigens hatte Radikal auch dem Wähler einen Neujahrswunsch nahegelegt. Wenn er am ersten Januar die Augen öffnet, sollten alle Spitzenpolitiker verschwunden sein. Dieser Wunsch wird wohl auch im kommenden Jahr noch nicht in Erfüllung gehen. Jürgen Gottschlich, Istanbul