Es wird gesündigt auf Teufel komm raus

Auch wenn es die herrschenden Mullahs noch nicht wahrhaben wollen: Die Islamische Republik Iran steht vor dem Umbruch. Die Moscheen werden immer leerer. Wer es sich leisten kann, feiert heimlich, aber ganz ungeniert  ■ Aus Teheran Martin Land

„Sie können es nur falsch machen“, sagt Maschalla Schamsolwaesin, Chefredakteur der verbotenen Tageszeitung Tus. Er spricht über den Prozeß, den die konservative Revolutionsführung dem Teheraner Bürgermeister Golam Hossein Karbastschi gemacht hat, um damit den wichtigsten Unterstützer von Präsident Mohammad Chatami kaltzustellen: „Sie hätten geheim verhandeln können, aber dann hätte das Volk aufgeschrien. Also haben sie einen Schauprozeß daraus gemacht – und Karbastschi damit zum Volkshelden gemacht.“

Als Schamsolwaesin sich im Interview über diesen Prozeß ausließ, war noch nicht bekannt, wer für die jüngste Mordserie an oppositionellen Schriftstellern und Politikern verantwortlich ist. Nun aber, nachdem erstmals in der Geschichte der Islamischen Republik das Geheimdienstministerium eingestehen mußte, daß es die eigenen Leute waren, „unverantwortliche, fehlgeleitete, eigensinnige Personen“, die als Täter festgenommen wurden, gerät Schamsolwaesins Resümee zum Motto iranischer Politik: Was immer die Konservativen tun, ihre Macht zu halten – sie können es nur falsch machen.

Als sie Teherans populären Bürgermeister Karbastschi, dem seine Bürger zutrauen, „noch die Slums Südteherans in ein zweites Paris zu verwandeln“, den Prozeß wegen Korruption machten, um ihn politisch auszuschalten, adelten sie ihn zum Märtyrer. Als sie Schamsolwaesins renitente Tageszeitung Dschame verboten, brachte dieselbe Mannschaft nur Tage später das gleiche Blatt unter neuem Namen mit noch höherer Auflage heraus und plant, nach deren Verbot, bereits die nächste Zeitung. Als drei Schriftsteller und ein Politikerehepaar ermordet wurden, gingen 80.000 Menschen auf die Straße.

Die Büchse der Pandora ist geöffnet, und die unbeherrschbaren Geister des iranischen Volkes lassen sich nicht mehr einfangen. Iran, wenige Wochen vor dem 20. Geburtstag seiner Islamischen Revolution, das ist die Bühne eines Machtkampfs, bei dem zwar längst noch keine Gewinner, sicher aber die Verlierer feststehen. Die Bühne eines surrealen Nebeneinanders von öffentlicher Verschleierung und privater Freiheit war das Land schon immer gewesen in den letzten Jahren. Aber allmählich weicht die Doppelmoral einer kaum kaschierten Auflehnung.

Als ein Schauspielerpaar im Theater des Bahman-Kulturzentrums im Süden Teherans unlängst das Kußverbot für Bühnen umging, indem ihre Gesichter eine endlose halbe Minute lang auf Fingerbreite voreinander verharrten, wurde es totenstill im Publikum, als ob sich in der nächsten Sekunde die Erde auftun und das Theater verschlingen würde. Aber nichts geschah. Nichts mehr passiert auch den immer offener privaten Festen frönenden Teheranern. Und an den Universitäten skandieren die Studenten nicht mehr „Allah-Massalam“ zu Beginn der Vorlesung, sondern sie klatschen – ausgerechnet klatschen, diese Vorstufe zur teuflischen Versuchung des Tanzes.

Nicht das Böse selbst zu bekämpfen war die Devise der Mullahs, sondern dessen demonstrative Zurschaustellung. Aber die Bigotterie hat die Iraner bloß dazu gebracht, die Satellitenschüsseln hinter Begonien zu verstecken und den Whisky zu Hause zu trinken. Sie hat eine Jugend heranwachsen lassen, die zwar nie etwas anderes erlebt hat als die Islamische Republik, ihr aber nichts abgewinnen kann.

Er würde sich ja gerne noch öfter mit Mädchen treffen, erzählt grinsend der 24jährige Farid auf einer Party im reichen Norden Teherans. Aber meist sei der Tag eher vorbei als sein Kater vom Vorabend. Seine Begleiterin nennt ihn „Amerika“, und alles lacht. „Na, Chomeini hat doch gesagt: Amerika ist fähig zu nichts!“

Die Einkaufsstraßen wie die Jordan- oder die Geisha-Straße (offiziell heißt sie anders, aber jeder nennt sie so) sind abends oft nur im Schrittempo befahrbar, weil das Auto zum Flirt-Instrument mutiert, in dem junge Frauen und Männer solange ihre Runden drehen, bis sich zwei Wagenbesatzungen gefunden haben. Dann werden entweder Telefonnummern ausgetauscht, oder es wandert auch mal ein Mobiltelefon leihweise durchs Fenster und sichert so die sofortige Verbindung.

Wer es sich leisten kann, lebt so sündig, wie er mag. Wer – wie die allermeisten – im wirtschaftlich darniederliegenden Land gerade so über die Runden kommt, jobbt, büffelt für die Uni-Zulassung, versucht auszuwandern, nur zu den Jugendorganisationen der Islamischen Revolution geht kaum noch einer. Die Moscheen sind leer wie nie in den letzten 20 Jahren, und den meisten Geistlichen dämmert langsam, daß die Usurpation aller Macht und Öffentlichkeit durch die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ nicht das Volk gläubiger gemacht, sondern den Glauben ruiniert hat.

„Apokalypse“ ist das einzige englische Wort, das der traurige Mullah im Teheraner Familiengericht kennt, und er wiederholt es immer wieder, während er im Stapel mit Scheidungsakten wühlt: „Die Rate steigt andauernd“, jammert der Gottesmann, „und die meisten Anträge werden auch noch von Frauen eingereicht“, ungeachtet aller Nachteile, zumeist die Kinder zu verlieren und schwer wieder einen Mann zu finden. „Wir wollten die Leute frommer machen, aber irgendwie ist das Gegenteil eingetreten. Was haben wir bloß falschgemacht?“

Es mußte ja unbedingt alles islamisch sein – voilà, nun haben sie den Salat: Daß der Islam die Lösung allen Übels sei, glaubt keiner mehr – außer denen, die an ihm verdienen. Mullahs haben sich als genauso korrupt herausgestellt wie andere Menschen. Der Staat ist so zugrunde gewirtschaftet, daß er als einziges Opec-Land nicht mal seine Quote erfüllt, und die schiitische Geistlichkeit selbst ist zerstritten: Auf der einen Seite fordern Reformer wie der Theologe Abdolkarim Sorusch, daß die religiöse Führerschaft sich dem Souverän des Volkes unterwerfen solle, in der Mitte kämpft der Revolutionsführer Ali Chamenei mit seinen Getreuen um die Macht, und auf der anderen Seite finden ultrakonservative Ajatollahs es ohnehin eine Todsünde, sich vor der Ankunft des Mahdis, des Messias der Schiiten, in weltliche Angelegenheiten einzumischen. „Bedenken Sie“, erläutert Ahmad Irawani, Philosophiedekan in der Theologenhochburg Qom, „daß selbst Chomeini hier vor 40 Jahren noch als Liberaler verschrien war und sein Sohn geschnitten wurde, weil sein Vater Philosophie unterrichtet hatte“, quasi ein Modernist gewesen sei im quietistischen Qom, der das Denken und Infragestellen lehrte – was manche glaubenstreue Geistliche bis heute ablehnen. „Eine Religion, die für alles verantwortlich ist, trägt Schaden davon. Diesen Fehler haben auch von uns manche begangen“, tastet sich Irawani durchs Gelände der Selbstkritik: „Wer die Wahrheit sucht, sollte auf mehrere Wege vertrauen, nicht nur auf einen.“

Iran heute, das ist ein solch krasses Nebeneinander von Epochen, als hätten der bilderverbrennende Renaissance-Prediger Savonarola und der Jakobiner Robespierre einen Platz an Gerhard Schröders Kabinettstafel inne und stritten mit ihm um die zeitgemäße Form des Regierens. Allein die iranische Verfassung birgt schon zwei gegenläufige Systeme: jenes der islamischen Rechtsgelehrten, deren Führer auf Lebenszeit eingesetzt ist und Militär, Justiz, Revolutionsgarden und auch jenes Geheimdienstministerium unter sich hat, aus dessen Reihen die mutmaßlichen Mörder der Oppositionellen stammen. Und jenes demokratische System, dessen Präsident Chatami von zwei Dritteln der Iraner gewählt worden ist für sein Versprechen, der Gesellschaft mehr Freiheit und Gerechtigkeit zu geben. Chatami ist ein Paradoxon: Ein Geistlicher, der den Gottesstaat erhalten und zugleich eine zivile Republik schaffen will, tatsächlich ein iranischer Gorbatschow, „denn er bietet eine enorme historische Chance, die demokratischen Errungenschaften dieser Revolution zu überführen in eine echte Demokratie“, verteidigt ein westlicher Diplomat den Zickzackkurs des Präsidenten: „Wenn er wollte, könnte er die Leute zu Hunderttausenden auf die Straße bringen, aber das tut er nicht, denn das hieße Bürgerkrieg. Aber die Konservativen wiederholen die Fehler des Schahs, sich zu sicher zu fühlen und gnadenlos zu bereichern. Langfristig können sie die Macht nicht halten. Sie werden verlieren. Und sie wissen das. Aber es scheint ihnen egal zu sein.“

Langsam geht es voran: die Bankrotterklärung der Geheimdienstler, die Kommunalwahlen, die zum erstenmal in der Geschichte der Islamischen Republik Ende Februar stattfinden sollen, lauter Punkte für Chatami. „Wir sind geduldig“, lächelt Chefredakteur Schamsolwaesin: „Gut, mit unserer Berichterstattung über Folter, Terror, Korruption haben wir immer am Rand der roten Linie gestanden. Aber wir glauben fest daran, daß wir im Rahmen der Gesetze gehandelt haben!“ „Man kann nur zerstören, was man ersetzt“, konstatiert ein französisches Sprichwort, und Reformer wie Schamsolwaesin, der früher ein glühender Jünger Chomeinis war, sind auf dem besten Wege dahin: „Wir sind doch Kinder des Systems, wir wollen ja gar eine neue Revolution, um Gottes willen. Wir wollen die jetzige überführen in eine echte Demokratie, aber friedlich. Die Zeit ist auf unserer Seite, und als ich letztesmal verhaftet wurde, war es wirklich unnötig, daß sie mit 30 Polizisten vor der Tür standen. Sie hätten doch bloß anzurufen brauchen.“