Elektra aus dem Krebslabor

■ Kino der Leere: Jacques Rivettes cineastischer Theaterfilm Geheimsache Von Birgit Glombitza

Am Anfang scheint die ganze Welt im Reagenzglas zu warten. Auf ein Experiment oder auf einen Knall. Im kalten, blauen Laborlicht erledigt die Krebsforscherin Sylvie (Sandrine Bonnaire) die allabendlichen Vorkehrungen für den nächsten Tag. Sie bereitet die Zellen für die kommenden Versuche und für die Nacht vor. „Sonst sterben sie“, sagt sie mit der routinierten Fürsorge einer Tagesmutter. Will man den Krebs besiegen, darf er einem schließlich nicht einfach unter den Fingern krepieren. Nicht bevor die Forschung seine Wirkungsweise begriffen hat und blockieren kann. Und so topft Sylvie die kranken Zellkolonien ein und schreibt einen Namen drauf.

Das Begreifen ist ihr tägliches Geschäft. Sie ist präzise, klug und unberührbar. Eine Verabredung mit einem aufdringlichen Verehrer quittiert sie mit abgewogener Höflichkeit. Nur die eigenen Irrtümer bringen sie aus der Fassung. Und als ihr Bruder Paul (Grégoire Colin) den Jahre zurückliegenden Unfall des Vaters zum Mord erklärt, tastet sie die Schwachstellen dieser Version mit derselben Nüchternheit ab, mit der sie auch das Wachstum selbstgezüchteter Tumore bemißt. Walser (Jerzy Radziwilowicz), ein Freund der Mutter, soll den Vater aus dem Zug gestoßen haben. Ein Todesfall, der Walser den Chefsessel bei der Kriegsgerätefirma mit dem ebenso klangvollen wie grotesken Namen „Pax“ einbrachte. Sylvie befragt den Verdächtigen, studiert das letzte Foto mit dem Verstorbenen. Als alles zusammenpaßt, beschließt sie, Rache zu nehmen.

Jacques Rivettes Geheimsache ist eine wunderbare Variation über die unkalkulierbare Größe X geworden. Über die Worte „Unfall“, „Zufall“, „Ohnmacht“. Dabei liefert der französische Regisseur seine 170minütige Geschichte als Wegbeschreibung einer modernen Elektra, die es gewohnt ist, die Wahrheiten ihrer mechanistischen Welt in den Händen zu halten. Und Rivette weigert sich, dabei auch nur eine Abkürzung zu nehmen. Allein 15 Minuten sitzt Sandrine Bonnaire im Zug zu Walsers Wochenenddomizil.

Wir sehen ihr zu, wie sie aus dem Fenster schaut, wieder aufsteht, etwas aus ihrer Tasche kramt und wieder aus dem Fenster schaut. Sie bestellt einen Wodka und noch einen. Sie kontrolliert ihre Waffe und strengt sich an, die notwendigen Killerattitüden mit der Sonnenbrille aufzusetzen. Selbst die Auswahl der passenden Brille dauert eine kleine Ewigkeit. Und auf dem Gedankenlaufband ihrer hohen Stirn kann man die erfolglose Suche nach einer Formel für den Ausnahmezustand lesen. Bis aus einer gnadenlosen Verwirrung eine Entscheidung reift. Schwanken und Zaudern soll etwas für saumselige Melancholiker bleiben und nichts für Menschen, die den Tod täglich unterm Mikroskop studieren.

Sie geht zu Fuß durch die Nacht. Sie nimmt den Hintereingang, sieht Walser in der Bibliothek. Seine Geliebte Véronique (Laure Marsac) kommt unverhofft herein. Da drückt Sylvie ab und erschießt im Schreck die Falsche. Walser ent-sorgt das Opfer im Fluß und genießt fortan Sylvies Abhängigkeit von seinem Schweigen.

Alle Besonnenheit verpufft in der eigenwilligen Mechanik des Unfalls. Doch von lärmender Dramatik keine Spur. Rivette inszeniert auch das Ungeheuerlichste als den üblichsten Vorgang der Welt. Nur der satte Rasen, über den am nächsten Morgen Kinder hüpfen, sieht jetzt giftig aus. Und Sylvies Gesicht versteinert zur Maske, aus der alle Überzeugungen ausgezogen sind.

Rivettes Geheimsache ist ein Kino der Leere, der Halbtotale, des oberflächlichen Stillstands. Die Tragödie findet in den Gedankenzimmern der Protagonisten statt. Das Leben selbst wird zur künstlichen Szene, jede Begegnung gleicht einem Auftritt. Die Verwechselbarkeit von Authentizität und Kalkül, von Chaos und Kontrolle – daraus hat Rivette einen durch und durch cineastischen Theaterfilm gemacht.

Do, 14., 19 Uhr; Sa, 16., 19 Uhr; So, 17., 17 Uhr; Di, 19., 19 Uhr; Do, 21., 19 Uhr; So, 24., 17 Uhr; Di, 26., 17 Uhr; Mi, 27., 19 Uhr, Metropolis