Leben im Anagramm

Sandra Strunz jagt Lucas, Ich und Mich nach einer Romantrilogie von Agota Kristof durch die europäische Geschichte  ■ Von Niels Grevsen

Zwei Zwillinge werden in Kriegszeiten getrennt. Sie leben künftig in unterschiedlichen Welten, und erst Jahrzehnte später treffen sie sich wieder – jedoch ohne zueinander finden zu können. In drei Romanen – Das große Heft, Der Beweis und Die dritte Lüge – erzählt die ungarische Autorin Agota Kristof die Geschichte der beiden Brüder, die ohne einander un-eins sind. Ihre Namen sind jeweils das Anagramm des anderen, dieselben Buchstaben nur in anderer Reihenfolge: Lucas und Claus. Sandra Strunz inszeniert die Romantrilogie auf Kampnagel als Lucas, Ich und Mich.

Die Hamburger Regisseurin hat eine Vorliebe für komplexe Biographien auf der Bühne. Ihre Diplom-Inszenierung Meine Frau hieß Zwieback war eine Art Variation über den Schweizer Sonderling Armand Schuthess, Glauser behandelte Motive aus dem Leben des schizophrenen Krimiautors Friedrich Glauser. „Diese verschrobenen Biographien geben mir die Möglichkeit, auf der Bühne ungewohnte Dinge geschehen zu lassen, auch als Gegensatz zur heutigen Welt: Groteskes, Verrücktes, alles, was in unserem Leben sonst keinen Platz hat, weil es immer so furchtbar logisch zugehen muß.“

Wer Agota Kristofs knapp und kühl formulierte Romane kennt, muß eine Bühnenbearbeitung eigentlich für unmöglich halten. Ihre Figuren sind nie zu fassen, ihre Romane thematisieren immer auch das Erzählen selbst, die Auflösung der erzählenden Figuren. Was die Wirklichkeit ist – und was die Fiktion –, bleibt offen.

Aber gerade an diesem Punkt setzt auch Sandra Strunz' Theater an: Sie will die Romane gar nicht erst nacherzählen. Ihre kaleidos-kopartigen Inszenierungen erzählen nie kontinuierliche Geschichten, sondern stets in Bruchstücken. Auch in Lucas, Ich und Mich will sie durch die Lebensjahrzehnte der Zwillinge „jagen“, mit schnellen Wechseln von Personen und Schauplätzen, Wahrheit und Lüge. Dabei ist ihr Theater oft von einer fast Marthalerschen Ruhe. „Ich will auf der Bühne zeigen, wie man Dinge wahrnehmen kann, wie viele Möglichkeiten es gibt, die Dinge zu betrachten.“

Doch Lucas, Ich und Mich ist nicht nur eine Reise in die Biographie, in Modi von Wahrnehmung und Realität, sondern auch eine Reise in unsere Geschichte. In Kristofs Romantrilogie geht es nicht zuletzt um die Trennung Europas. Sie selbst emigrierte 1956 von Ungarn aus in die Schweiz. Die Themen ihrer Romane nennt sie „Einsamkeit, Exil und Entwurzelung“.

Sandra Strunz geht dem Problem der unwiderruflichen Trennung nach: „Auf einer tieferen Erzählebene handeln die Bücher von Agota Kristof von der Teilung Europas und der deutschen Wiedervereinigung. Ich will schauen, wo wir uns fast zehn Jahre nach der Wiedervereinigung befinden. Der Roman legt nahe, daß sie nach 40 Jahren zu spät gekommen ist.“

Premiere: Mittwoch, 20. Januar, 19.30 Uhr, Kampnagel k2