Selbsterkenntnis des Pickels

■ Vorgestern abend überreichte der Bremer Senat in Form Henning Scherfs der Kunsthalle ein teures Geschenk in Form Nam June Paiks. Dazu gibt's eine Ausstellung mit Lithos und Radierungen

Jetzt ist es nicht mehr zu verleugnen, jetzt liegt es ein für alle Mal offen: Nam June Paik trug im Jahr 1982 einen fetten Pickel links über der Oberlippe. Beweismittel ist ein totenmaskenartiger Bronzeabguß Paiks mit versenkungswillig geschlossenen Augen. Er ist Teil der Bremer Neuerwerbung „Triangle II“ (1994). Einem anderen Selbstporträtisten, Max Liebermann, ein Stockwerk höher verewigt, hätte das nicht passieren können. Er trug Oberlippenbart und offene bohrende Augen.

Die Videoinstallation paßt perfekt zum Motto, unter das Kunsthallenchef Herzogenrath konsequent seine Museumsarbeit stellt: Erkenne Dich selbst! Durch Kunst! Zur Eröffnung letztes Jahr ging er selbst kurzerhand unter die Readymaker und setzte den Besuchern einen Industriespiegel – Titel: der Name des Herstellers – vor die Nasen, mit und ohne Pickel. Egal ob Thomas Struths Bilder von Ausstellungsbesuchern oder eine unter alte Meister geschmuggelte Fotografie von einer Cindy Sherman, die sich selbst in ein altes Renaissancebild hineingebeamt hat: Überall gibt es Aufforderungen, die imposanten Bilderwelten mit dem eigenen, kleinen Leben kurzzuschließen.

Ganz entzückend ist diese Idee der Widerspiegelung in einer Grafik Paiks im Kupferstichkabinett formuliert. Ein Fragezeigen, das mit einem an horizontaler Achse gespiegelten zweiten Fragezeichen knutscht, ergibt – Wunder über Wunder – ein Herz. Zum 175. Jubiläum des Kunstvereins hat der Bremer Senat der Kunsthalle für 175.000 Mark auf Kosten des Kulturhaushalts dies Herz aus lauter Fragen, plus weitere Grafiken und „Triangle II“ spendiert. In „Triangle II“ geschieht die Begegnung mit dem Alter-mitten-im-Ego natürlich nicht mehr im Lacanschen Spiegel, sondern über die Videokamera. In einer Ecke des dreieckigen Erkenntnisrings steht der bepickelte Bronzepaik seinem eigenen Videobild gegenüber; in einer zweiten könnte die „Venus von Milo“ (in einer zusammengeschrumpften Billigversion aus dem Museumsshop des Louvres) dank Videokamera sich selbst in die Augen schauen – wenn diese nicht pupillenlos wären. Erst kürzlich – in einer wunderbaren arte-povera-Ausstellung – zeigte die Weserburg ein anderes Beispiel für das Abarbeiten an der Antike: Michelangelo Pistoletto zwang eine antike Herrscherstatue dazu, die eigene Großkotzgeste im Spiegel kritisch zu hinterfragen. In der dritten Ecke schließlich stehen sich – in TV-Kästen gesperrt – Paik und die Venus gegenüber. Und zwar so nah, daß kein Zuschauer sich zwischenquetschen kann: Den Pickel auf der eigenen Seele kann ich nur erkennen durch Studium fremder Pickel – und umgekehrt. (Auch wenn die wie immer klügere Bibel weiß, daß der Mensch die einmalige Begabung hat, anderer Leute Augensplitter zu rügen und die eigenen Balken zu übersehen.)

Herzogenrath muß als Kind ein begeisterter Puzzlespieler gewesen sein. Jedenfalls achtet er bei seinem Museum darauf, daß die Anschlüsse stimmen. Kaum zwei Schritt entfernt von der Installation wartet Aristide Maillols viel fettere „Venus“ auf eine ähnlich intensive Begegnung mit einem Kunsthallengast wie sie die Paikinstallation zeigt. Seltsame Bilder antiker Ruinen vor alten PC-Ruinen machen darauf aufmerksam, daß irgendwann auch Paiks Installationsgerümpel so antiquiert und fremdartig wirken wird wie heutzutage ein griechischer Sarkophag.

In seinen Graphikzyklus „V-Idea a priori“ untersucht Paik, wie sehr das Video-Glotzen schon längst neue, über Kant hinausgehende Erkenntniskategorien geschaffen hat, die unsere (v)Ideen unbewußt leiten, solange bis wir vergessen: „Life has no rewind-button.“ Pessimistisch stimmt ihn das noch lange nicht. In putzigen Tapetenmustern zeigt er, wie man die endlose Abfolge aus Busen, Pistolen, schnellen Autos, fiesen Kerlen, Busen, Pistolen ... zenbuddhistisch wahrnehmen kann: nämlich als Fluß, der sich bewegt – und doch bleibt er immer das gleiche.

Eines der Bilder vermantscht ein Zeitschriftenschnipsel des Jahres 1944. Dort wird eifrig darüber spekuliert, wie lange es wohl dauern wird, bis nach dem Krieg wieder TVs hergestellt werden – als gäbe es nichts wichtigeres. Sechs Monate? Ein Jahr? Paik kontert (im Jahr 1973) mit der Frage, wieviel Zeit wohl vergehen wird, bis Videokunst in den Wohnungen und Museen Einzug hält? In Bremen war's mal wieder soweit, am 12.1.99.

Barbara Kern

Paik-Graphik im Kupferstichkabinett bis 21.3.