EU-Konservative knicken vor Santer ein

Nach einer Rücktrittsdrohung des Kommissionspräsidenten distanzieren sich hundert EVP-Parlamentarier von seinen Kritikern. Heute wird über die Mißtrauensanträge gegen die Kommission abgestimmt  ■ Von Daniela Weingärtner

Der Präsident der EU-Kommission, Jacques Santer, scheint nervös zu werden. Die Reaktion auf seine beschwichtigende Rede vor dem Europaparlament am Montag ist nicht so ausgefallen, daß er sich beruhigt zurücklehnen könnte. Deshalb hat er am Dienstag abend 20 Abgeordnete der zweitstärksten Fraktion, der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), zum Abendessen eingeladen. Sie sollten ihren Parlamentskollegen „inoffiziell“ folgende Botschaft überbringen: Sollte sich für die heutige Abstimmung im Plenum eine Mehrheit dafür abzeichnen, die Entlassung einzelner Kommissare oder der ganzen Kommission zu fordern, werde er zurücktreten.

100 Abgeordnete der EVP hat Santers Drohung dazu gebracht, sich von den Kritikern der Kommission zu distanzieren. Alle anderen wollen sich ihre Entscheidung bis zur letzten Minute offenhalten. Unverändert stehen mehrere Anträge heute im Straßburger Plenum zur Abstimmung, die für einzelne Kommissare oder die Kommission als Ganzes das Ende der Karriere bedeuten könnten.

Während Teile der Europäischen Volkspartei, Liberale und Grüne den Rücktritt der beiden in Finanzaffären verwickelten Kommissare Edith Cresson und Manuel Marin erreichen wollen, halten Sozialisten und einige kleinere Fraktionen an ihrem Mißtrauensantrag gegen die ganze Kommission fest.

Bei den Sozialisten, die mit 214 Abgeordneten die größte Fraktion bilden, ist die Stimmung in den vergangenen Tagen völlig umgeschlagen. Ursprünglich wollte Pauline Green, die Fraktionsvorsitzende, das Mißtrauensvotum nur einbringen, um es mit großer Mehrheit ablehnen zu können. Sie wollte damit das Verhältnis zwischen Kommission und Parlament auf eine neue Vertrauensgrundlage stellen.

Verärgert über das uneinsichtige Verhalten Santers und Cressons arrogantes Auftreten vor dem Plenum, sind viele sozialistische Abgeordnete von dieser ursprünglichen Haltung abgerückt. Dienstag abend entschieden sich die deutschen SPD-Abgeordneten dafür, das Mißtrauensvotum gegen die Kommission zu unterstützen.

Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ingrid Matthäus- Maier forderte gestern gegenüber dem Saarländischen Rundfunk den Rücktritt von Cresson und Marin. „Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, daß die so an ihren Sesseln kleben“, erklärte die Politikerin.

Der Bruch war im Dezember entstanden, als der Haushaltsausschuß unter Führung der deutschen EVP-Abgeordneten Diemut Theato die Entlastung für den Haushalt 1996 verweigerte. Seither ist der Unmut im Parlament durch immer neue Informationen über Vetternwirtschaft und finanzielle Schlampereien weiter gewachsen.

Der für Forschung zuständigen Kommissarin Cresson wird Kungelei bei der Vergabe von Posten vorgeworfen. Marin wird für Unregelmäßigkeiten beim Amt für Humanitäre Hilfe der EU, ECHO, verantwortlich gemacht. Die Kommission hat bereits zugegeben, daß in ihrer Amtszeit rund 1,2 Millionen Mark bei ECHO verschwunden sind. Für humanitäre Hilfe vorgesehene Gelder wurden für externe Mitarbeiter ausgegeben.

Während der Spanier Marin in seiner Erklärung vor dem Plenum Fehler und Versäumnisse einräumte, wies Cresson jede Verantwortung von sich. Inzwischen hat sie auch mitgeteilt, wer ihrer Meinung nach hinter der Kampagne steht: rechte Politiker in Deutschland, die mit ihrer Kritik an Brüssel erreichen wollen, daß die Bundesrepublik weniger in die EU-Kasse zahlen muß.

Wie sehr die klare Frage nach Kontrollrechten des Parlaments und politischer Verantwortung für Mißwirtschaft durch Länderinteressen verwässert wird, zeigen auch die Reaktionen aus Südeuropa: Spanische Zeitungen vermuten, daß Deutschland die Krise vorsätzlich ausgelöst habe, um seine Position im Streit um die finanzielle Lastenverteilung in der EU zu verbessern.