Ungeheuer modern durch Bösartigkeit

■ Thalia: Jürgen Flimm inszeniert Schnitzlers selten gespieltes Drama Das weite Land

Sie sitzen beisammen und halten die Konventionen guten Geschmacks aufrecht. Die Kragen sind sauber, die Fesseln bedeckt. Wir sind im Sommerhaus des Fabrikanten Hofreiter im eleganten Baden bei Wien. Das Jahr ist 1910, und eben kommt man von einer Beerdigung zurück.

Der Pianist Korsakow hat sich erschossen, weil Genia, Hofreiters Gattin, sein Werben nicht erhört hat. Hofreiter wundert sich – er wirbt dauernd anderswo und wird dauernd erhört. Als Genia merkt, wie wenig ihrem Gemahl an Treue gelegen ist, und sie daraufhin weniger aus Lust, denn aus Logik einen jungen Fähnrich erhört, bahnt sich ein tödliches Drama an.

„Schnitzler ist viel zeitgenössischer als Tschechow oder Ibsen“, sagt Jürgen Flimm, der die Sommerfrische inszeniert. „Er ist näher an unserer heutigen Verlogenheit. Seine Welt ist viel bösartiger. Sicher hat das mit dem damaligen Wien zu tun. Tschechow erbarmt sich der Figur immer auf irgendeine Weise und liebt ja gerade die Blödesten in seinen Stücken. Von Schnitzler kann man nicht sagen, daß er seine Figuren besonders gern hat. Das macht ihn so modern.“

Schon öfter sollte es diesen eher selten gezeigten Schnitzler am Thalia geben. „Es gab aber Schwierigkeiten, dieses Riesenstück adäquat zu besetzen. Man braucht ein Ensemble mit einem ganz bestimmen Spektrum.“ Mit Hausstars und den zahlreichen Neuzugängen – wie etwa Werner Wölbern – ist dieses Spektrum verfügbar. In neun Wochen Probenzeit entstand die Verpflanzung des komplexen Figurengewebes auf die Bühne.

„Ich gehe nicht festgelegt an Proben heran“, sagt Jürgen Flimm. „Die Schauspieler und ich einigen uns auf das Stück, und der Rest ist gerade bei den realistischen Stücken immer eine ganz freie Veranstaltung. Jeder Schauspieler bezieht seinen Text zuerst einmal auf sich. Und dann muß man sehen, daß ein Geflecht entsteht – und das ist mein Job. Aber ich kann dem Hans Christian Rudolph letztlich im Detail nicht vorschreiben, wie er den Hofreiter zu spielen hat. Das muß er im Dialog mit der Figur erarbeiten, sich die Figur näherbringen, und ich muß dann alles zusammenfügen.“

„Ich habe eine bestimmte Interpretation, die Schauspieler haben eine andere, und im Idealfall entsteht während der Proben etwas Drittes, eine Synthese. Dabei wird relativ wenig geredet. Die Psychen der Figuren sind uns ja gut bekannt. Wenn man ein bestimmtes Alter hat, kennt man diese Art von Lügnereien. Wir jonglieren da auch mit Lebenserfahrung.“

Auf der realistischen, aber nicht naturalistischen Bühne von Rolf Glittenberg will Jürgen Flimm hart am Schnitzler-Text bleiben. „Das Stück hat ja den Duktus, aus dem man auch nicht herauskommt. Wir wollen möglichst nahe an den Figuren bleiben und an der Geschichte, die schon schwer genug zu erzählen ist.“

Thomas Plaichinger

7./9./10./12. Oktober, jeweils 20 Uhr, Thalia Theater