Das Drama des phantasiebegabten Kindes: E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ in einer Theaterversion an den Kammerspielen

Seine Füße verrieten ihn hinter dem ausgebeulten Vorhang. Mit dem Ausruf „Kleine Bestie – kleine Bestie“ hat der alte Advokat Coppelius den kleinen Nathanael am Schlafittchen. Will ihm die Augen ausstechen. Allemal Grund für ein kindliches Trauma. Doch es kommt noch schlimmer: der Widerling hängt mit dem tragischen Tod des Vaters zusammen, verschwindet ins Nichts und taucht Jahre danach plötzlich wieder in Nathanaels Leben auf. Wahrlich zum Verrücktwerden. In E.T.A. Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann bleibt für den Studenten Nathanael die Erinnerung an den dämonischen Bösewicht seiner Kindertage stets lebendig, wird so übermächtig, daß er nur im Tod Erlösung findet.

Dieser Klassiker der Schauerromantik hat Sonnabend nacht in der Bühnenfassung von Götz Loepelmann und Grischa Huber an den Kammerspielen Premiere gehabt. Für das einstündige One-Woman-Stück hat die schillernde Erzählung allerdings einige Federn gelassen: die Handlung wurde auf die Dialogpassagen der Erzählung reduziert. Doch die Diät gereicht der Inszenierung zum Vorteil. Auch die Idee, Nathanaels Hirngespinste nur von einer Person darstellen zu lassen, wirkt in sich schlüssig.

Regisseur Goetz Loepelmann läßt Grischa Huber nur zu Beginn mit abgegriffenen Theaterstereotypen das erste Stadium von Nathanaels Zwangsvorstellung einführen. Unvermitteltes Schreien, Aufspringen, verhastetes Sprechen samt Haareraufen, das in gequält jaulendes Crescendo mündet, zeigt für alle, die es nicht wußten: es geht hier um die seelische Selbstzerfleischung eines jungen Menschen, mit wahrscheinlich fatalem Ausgang. Auch das hektische Kratzen – Feder auf Papier – mit dem Nathanael die Berichte seines Wahnsinns verfaßt, nagt an der Geduld des Publikums hörbar.

Erst als Grischa Huber beständig, zwischen der Rolle des Nathanael und den wirklichen, wie eingebildeten Gegenspielern wechselt, erhält die Fallgeschichte des phantasiebegabten Knaben fesselnde Facetten. Sei es als die heitere und gütige Verlobte Clara, die Stimme der Vernunft; als bedrohlicher Coppelius, der zu einem riesenhaften Ungetüm aus einer einfachen Wolldecke wird, in die sich Nathanael eingehüllt hat, oder als stumpfe Aufziehpuppe Olimpia – Grischa Huber spielt intensiv, setzt die kargen Requisiten effektvoll ein. Bisweilen blitzen witzige Momente auf, wenn Grischa Huber, während Nathanael zum Chamäleon seiner Umwelt wird, zugleich als Nathanael kommentiert.

Das bizarre Nachtstück trifft den Ton einer zeitlosen, schauerlichen Gute-Nacht-Geschichte sehr genau. Und zeigt scheinbar: das kann heute nicht mehr passieren.

Ute Brandenburger