Goldener Oktober für die Arbeiterklasse

■ Ab heute gilt für Hamburgs Metaller die 35-Stunden-Woche

Wer Mitfeiern möchte, guckt dumm aus der Wäsche. In Hamburg zumindest. „Mit welchen Veranstaltungen begeht die Hamburger IG Metall den 1. Oktober 1995?“ Die Frage löst in der Gewerkschaftszentrale am Besenbinderhof, von Altvater August Bebel eins als „Festung der Arbeiterklasse“ gepriesen, erstaunte Ratlosigkeit aus. War da irgend etwas? Sollte man da was feiern? Fehlanzeige. Hamburgs Metaller begehen, so steht zu vermuten, die Verwirklichung ihres jahrzehntelangen Kampfzieles 35-Stunden-Woche ganz im Stillen.

Lauter geht es andernorts zu. Harald Schartau beispielsweise, Chef des IG-Metall-Bezirks Dortmund: „Wer nun gleich die 30- oder gar 25-Stunden-Woche fordern will, der lebt auf Wolke sieben!“ Der 1. Oktober mit seiner 35-Stunden-Woche markiere, so Schartau, „den vorläufigen Endpunkt der Arbeitszeitverkürzung für alle“. Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder beließ es, moderne Wirtschaftspolitik kennt keine Pause, nicht beim Reden. Seine Staatsdiener müssen wieder 40 Stunden pro Woche arbeiten, „um Neueinstellungen zu vermeiden“.

In hansestädtischen Metallbetrieben herrscht derweil große Ratlosigkeit. Klaus Mehrens, Chef der Hamburger Metaller: „Wir haben eine Umfrage gemacht. In der Mehrzahl der Betriebe steht noch nicht fest, wie die 35-Stunden-Woche jetzt konkret umgesetzt wird.“ Das ist beileibe kein Hamburger Phänomen, wie die Frankfurter IG-Metallsprecherin Heike Neis bestätigt: „Die Betriebsräte stehen vielerorts noch in Verhandlungen. Bei manchen Großbetrieben haben wir inzwischen über 100 verschiedene Arbeitszeitmodelle.“

Tatsächlich: Seit 1984, als die IG Metall mit naiver Euphorie den Kampf für die 35-Stunden-Woche startete, hat sich vieles verändert. Flexibilisierung, damals ein allenfalls Insidern ein Begriff, ist längst Arbeitswirklichkeit. Die Prophezeiung des Duisburger Wirtschaftswissenschaftlers Staudt im Jahre 1983, die überfällige Arbeitszeitverkürzung werde sich als „Rationalisierungspeitsche“ erweisen und überfällige Modernisierungen anschieben, vor denen auch das erneuerungsfeindliche Arbeitgeberlager damals ängstlich zurückschreckte, hat sich längst bestätigt.

Auch von Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, einst oberste Maxime der IG Metall, redet heute niemand mehr. Der gewerkschaftsnahe Wissenschaftler Hartmut Seifert bilanziert trocken: „Arbeitszeitverkürzungen erfolgen heute nach dem Prinzip, Freizeit gegen Einkommen zu tauschen.“

Genaue Berechnungen, wieviel Arbeitsplätze die Arbeitszeitverkürzung wirklich gebracht hat, gibt es nicht. Als Fautsformel gilt, daß 50 Prozent der Arbeitszeitverkürzung in Sicherung oder Schaffung von Arbeitsplätzen wandert, der Rest versickert als Produktivitätsfortschritt.

Die Hamburger Gewerkschaftschefs Klaus Mehrens (IG Metall) und Rolf Fritsch (ÖTV) jedoch halten, anders als Schartau, die Fahne hoch: „Arbeitszeitverkürzung ist wichtiger denn je“ betonen sie unisono. Nur: In Zukunft werde es immer stärker auf neue und kreative Formen ankommen, auf betrieblich genau zugeschnittene Lösungen beispielsweise, oder neue Ansätze wie „Arbeitszeitkonten“. Rolf Fritsch sorgte selbst mit einem Vorstoß für Teilzeitarbeit ohne Lohnausgleich bei den Spitzen der Verwaltung für Aufregung: „Teilzeitarbeit von Männern in höheren Einkommensgruppen kann traditionelle, auf Vollzeitarbeit fixierte Karrieremuster verändern helfen.“

Hartmut Tofaute, Wissenschaftler am Gewerkschaftsinstitut WSI, bleibt optimistisch. Gelänge es bis 1999, die 35-Stunden-Woche der Metaller als „gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt“ zu etablieren, dann ließen sich „Beschäftigungseffekte von über einer Million Mehrbeschäftigten bis zum Jahr 2000 erzielen“. Florian Marten