Fieser Humor

■ Das Landesjugendorchester Bremen begleitet Charlie Chaplins „Circus“ live im Kino 46

Die Zirkusartistin, der Charlie Chaplin erst sein Herz zu Füßen schleudert und am Ende entsagen wird – sie entscheidet sich für einen größeren, stattlicheren, bewundernswerteren Mann, schaukelt im ersten Bild von „Circus“ noch viel anmutiger, aber auch viel melancholischer in ihren Zelteslüften als ihre Berufsgenossin aus Wenders „Himmel über Berlin“.

Schwer zu verstehen, warum Chaplins letzter Stummfilm sich so viel rarer macht auf deutschen Leinwänden als „Goldrausch“ oder die Tonfilme „Modern times“ und „City Lights“. Selten wurde Hunger so drastisch gezeigt wie in der einen Szene, wo Chaplin einem verduzt-amüsierten Baby das Brot aus der Hand wegfrißt, oder der anderen Szene, wo Liebe erst auf den zweiten Blick passieren kann, weil zunächst mal die Frage geklärt werden muß, wer wieviel Brot abbekommt. Selten wurde aber auch so neckisch darüber reflektiert, wie Humor funktioniert.

Chaplin spielt in „Circus“ einen Tramp. Der hechelt so furchtbar lustig und lustig furchtsam einer geklauten Geldbörse hinterher, daß sich gleich das ganze Zirkuszelt, in das er versehentlich hineingerät, kaputtprustet. Schadenfreude war noch immer die schönste Freude. Beim Auftritt der professionellen Clowns dagegen langweilt sich das Zirkuspublikum. Nur der Zuschauer des Films schmunzelt über den seltsamen Kopfschmuck – bestehend aus Puppenwaschzuber und Puppenunterhose – eines ob seines Mißerfolges zerknirschten Clowns.

Wahrer Witz kann nicht erzeugt werden durch Berechnung, sondern nur durch die Fiesheiten des Lebens: Das zeigt uns Chaplin sehr kunstvoll berechnend. Weil der Tramp ganz unfreiwillig die vorgefertigten Clownsnummern durcheinanderwirbelt, bringt er einem erfolglosen Zirkus endlich Ruhm und Reichtum.

Einen geeigneteren Film hätte das Bremer Landesjugendorchester (LJO) nicht wählen können. Die eine oder andere – ebenfalls unfreiwillige – mikrotonale Abweichung von der klassischen Diatonik, der eine oder andere rhythmische Querstand richtet hier keinen Schaden an, sondern paßt bestens zum Filmkonzept der Freude durch Perfektionsvernichtung. Zumal die jungen MusikerInnen zwischen 14 und 20 mit viel Gefühl und wunderbarem Ton spielen, vor allem am Schluß, wenn zunehmend lauter werdene Töne zunehmend leisere und traurigere Bilder untermalen. Und schließlich sind auch echte Zirkusbands keine Berliner Philharmoniker.

27 Jahre lang war das LJO ein reines Streicherensemble. Seit kurzem bemüht sich Stefan Geiger um die Anwerbung von Bläsern und Percussionisten. Schließlich ist der 31jährige Professor für Posaune und Bläserkammermusik an der Hochschule Hamburg. Diese Reform hat frappierende Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis im LJO. Sonderbarerweise sind 80% der StreicherInnen Streicherinnen. Wohingegen bei Blech plus Saxophonen sich gerade mal ein weibliches Wesen in einer achtköpfigen Männerriege verliert. Werden weniger Jungs von ihren Eltern an die Geige gesetzt? Geben sie öfter schneller auf? Wer weiß. Warum sich mehr Frauen als Männer für ein Musikstudium mit Ziel Orchestermusiker entscheiden, weiß Stefan Geiger allerdings aus vielen Gesprächen. In Zeiten der Rezession ist der Zwang zu einem sogenannten soliden, sicheren Beruf für Männer größer als für Frauen.

Chaplins Filmmusik untermalt eher flächig als punktgenau. „Drei Sekunden zu schnell oder zu langsam ist da kein Drama“, meint Geiger. Bei manchen Schnitten oder auffälligen Gesten – etwa, wenn sich der verfolgte Tramp als Maschinenmensch tarnt – ist aber Millimeterarbeit gefragt. Mittlerweile ist Geiger „ganz begeistert“ von Chaplins selbstkomponierter Filmmusik. Auch wenn er ihn „nicht gerade für den größten Komponisten des Abendlandes“ hält, schätzt er das Gemenge aus einschmeichelnden Wiederholungen und Zitaten. Bei einer wenig freundschaftlichen Begegnung zwischen Tramp und Löwe erinnert Chaplin an Rimsky-Korsakows „Scheherezade“. Ein ander Mal „sagen die Posaunen des Fliegenden Holländers kurz Grüßgott. Ein wenig overposed, nach dem Motto: Spaß ist erlaubt“, meint Geiger. Nicht immer ist Ton und Bild deckungsgleich. In einer Liebesszene bleibt die Musik noch romantisch, wenn ein Esel längst den nächsten Gag liefert. Auf die Idee, eine endlose Verfolgung durch unerbittliche Achtelketten auszudrücken, „hat Chaplin natürlich kein Patentrecht“, aber wie diese Ketten ausgerechnet innerhalb des Signalhornintervalls Quart toben, das ist doch nett.

Nett ist auch Stefan Geiger. In der Generalprobe lobt, bittet und dankt er seinen Zöglingen mit vorbildhafter Höflichkeit. Manch ver-sklavter Profimusiker würde sich die Saiten nach so viel Respekt schlecken. bk

Kino 46 Fr, Sa, Mo, Di, 20.30h; Sa-So, 16h. Interessierte junge Orchestermusiker können sich melden unter 040-225759.