Kopulierende Nilpferde als Tabu

■ Durs Grünbein las aus seinem neuen Gedichtband „Nach den Satiren“, berichtete vom Dichten und erzählte seinen Lieblingswitz

Wenn Durs Grünbein über Berlin dichtet, dann geht es um Zerstörung, Vernichtung und um das Vergessen. Am Anhalter Bahnhof, weiß er, haben damals die Panzer gewendet. „Hier legte sich der Mongolensturm.“ Und damals am Friedrichshain, schoß, wer im MG- Nest saß, blindwütig heraus. Doch richtet sich sein Blick Richtung Potsdamer Platz, dann wird es plötzlich recht gegenwärtig und der freundliche Dichter „wittert etwas, das nach Zerstörung schreit“.

Auch heute. Gerade heute. Angesichts der blinkenden Konsumtempel auf dem geschichtsträchtigen Platz. Berlin ist die „Hauptstadt des Vergessens“. Hier gehen eher „Kamel und Dromedar durchs Nadelöhr, als daß einer hier zurückblickt, sich erinnernd“. Grünbein erinnert sich. Und Durs Grünbein beobachtet gleichzeitig mit ungeheurer Präzision seine Gegenwart. Er hat den sezierenden Blick, der an keiner Oberfläche hängenbleibt, der tiefer dringt. Im Raum und in der Zeit. Er ist ein behender Grenzgänger durch jenes Nadelöhr, das die Gegenwart von den Vergangenheiten trennt. Er ist in der Geschichte zu Hause und beobachtet seine Zeit aus der Perspektive des zweitausendjährigen Mannes. Und Gedichtzeilen wie „Alles geht weiter, vor allem der Krieg“ verliest der „unpolitische Tagedieb“ (Grünbein über Grünbein) dann ganz nebenbei.

Durs Grünbein las am Donnerstag abend im Rahmen der Mosse- Lectures aus seinem im Frühjahr erscheinenden Gedichtband „Nach den Satiren“. Und er berichtete vom Dichten. Über die Entstehung eines autobiographischen Erinnungsgedicht erzählt er beispielsweise: „Ach, da stand irgendwann ,dabei‘ und ,Hawaii‘ auf einem Zettel und plötzlich kam ein ganzes Lebensmantra wie von selbst.“

Gut, das glaubt man ihm jetzt nicht ganz. Aber es zeigt den umfassend gebildeteten Dichter als herrlich unprätentiösen Mann. Der auch alle Germanistenfloskeln des die einleitenden Worte sprechenden Erhard Schütz locker freundlich abtropfen ließ. Lieber ging er auf abseitige Fragen der Zuhörer in dem voll besetzten Foyer des elf-Konzerns im Mossehaus ein: „Was ist ihr Lieblingswitz, Herr Grünbein?“ fragte man. Durs grübelt kurz und sagt: Ein Kindermörder und ein kleines Mädchen gehen des nachts in einen dunklen Wald. Das Mädchen zittert ängstlich und klagt über die Kälte, die Dunkelheit und seine Angst. Darauf der Kindermörder: Was soll ich da erst sagen. Ich muß den ganzen Weg allein zurückgehen.“ HarHar. „Die Einsamkeit des Mörders. Das ist doch sehr interessant“, meint Grünbein. Ein anderer Leser möchte wissen, was ihm im Berliner Naturkundemuseum am besten gefalle. Grünbein nennt Fliegenmodelle aus der Nazizeit, die aussehen wie Kampfflugzeuge. Und er nutzt die Frage zu einer Naturkundemuseumskritik: „Was mir fehlt in diesen Museen, sind kopulierende Nilpferde. Überhaupt das kopulierende Tierpaar.“ Das sei noch eines der letzten Tabus der Präparatoren.

Über die Nilpferde kommt er flugs zur Walser-Bubis-Debatte, die er ein „ungeheures Meinungsgestöber“ nennt, in dem es ausschließlich darum gehe, sich selbst moralisch vorteilhaft ins Licht zu setzen. „Ich wüßte nicht, was da kognitiv herauskommen sollte“, sagt er. Für ihn sei das nichts. „Das ist ein Defätismus, das gebe ich zu.“ Durs Grünbein dichtet lieber. Volker Weidermann