Ja, nein und die Kraft des Nörgelns

■ Wie Exi Helmut Höge den "ruhelosen Exi(stentialisten)" Professor Doktor Olav Münzberg einmal anläßlich seines sechzigsten Geburtstages besuchte und mit ihm und um ihn herum den Existentialismus auslotet

Ich gehörte zu den (intellektuellen) Exis, jedenfalls nach Meinung der (proletarischen) Rocker, die mich immer mal wieder unfreundlich anrempelten. Ich war schmächtig und trug weder Lederjacke noch Schmalztolle. Außerdem hatte ich damals, Ende der fünfziger Jahre, schon durchaus einen Begriff von Existentialismus: Zu Ostern und im Herbst fuhren meine Künstlereltern regelmäßig mit mir und unserem Dackel auf dem Motorrad nach Paris. Geradezu eine Pilgerfahrt ins Herz des Existentialismus. Die Mutter blaß geschminkt, der Vater mit dem Zeigefinger rudernd. Tagelang standen sie vor irgendwelchen Kunstwerken – und begeisterten sich. Es war furchtbar! Zu Hause – in den Exi(stentialisten)kellern – war es nicht besser: Bärtige baskenbemützte Pfeifenraucher diskutierten bei schaurigem Rotwein die Bläsereinsätze irgendwelcher Jazzformationen.

Aber dann setzte sich zum Glück mit der Straßenrevolte die Rock- und Popmusik durch und fegte all die „Baskenmützen“ hinweg. Mit dem Paradigmenwechsel von Paris nach New York fanden sich Jung-Exis und -Rocker im internationalen „Protest“ wieder – auch gegen die alten „Kordhosen“ und „Baskenmützen“, die ihre Avantgardeposition jedoch teilweise erhalten konnten, in dem sie ihren Existentialismus als Resistenzphilosophie an die Spitze der neuen „Bewegung“ drillten. Hier konnte nur eine kräftige Dosis Stalin-Mao (Stamo) kapieren helfen!

An dieser Stelle kommt jetzt Olav Münzberg ins Spiel: 1972 promovierte er beim Religionsphilosophen Klaus Heinrich an der Freien Universität (FU) – über Rezeptionsfragen in der Ästhetik: „Also Kant, Hegel, Heidegger, Sartre und Benjamin/Adorno!“ Olav Münzberg wurde dann Assistent beim egalitären Klaus Heinrich. Beim elitären Hermeneutiker Dieter Henrich, der wegen der Linken an der FU die Stadt verlassen hatte, aber noch eine Vorlesung an der Technischen Universität (TU) hielt, lernte Münzberg Dietger Pforte kennen. Anschließend gingen sie in die Paris Bar, wo die Professoren der Hochschule der Künste (HdK-Profs) saßen. Pforte ebenso wie Münzberg, die diesseits von „Kommune und SDS“ – ausgehend von der „antiautoritären Bewegung“ – „die drei Stränge Philosophie, Literatur und Kunst“ bearbeiteten, und wie er das Anfang 1999 nannte, sind sie „in Wirklichkeit“ jedoch vor allem kulturpolitisch tätig.

Olav Münzberg – inzwischen Honorarprofessor an der HdK („für 100 DM monatlich“) – meist in ehrenamtlichen Funktionen: „Ich habe keinen festen Verdienst, und lebe sehr bescheiden.“ Seine 2-Zimmer-Wohnung in der Wilmersdorfer Straße ist Zeuge! An die HdK kam er als „Spezialist für mexikanische Kunst und Kultur“. Zusammen mit Michael Nungesser holte er die großen sozialistischen Wandmaler Orozco, Rivera und Tamayo nach Berlin. „Wir sind auf eigene Kosten nach Mexiko gejettet und durchs Land gefahren.“ Über tausend Dias in seiner Wohnung beweisen es!

1972 gründete der Adorno- Doktorand Eberhard Knödler- Bunte in Frankfurt die Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation. Gerade wurde das hundertste Heft ausgeliefert. Seit 1973 sitzt die Redaktion in Berlin. Bis zur Wende 1990 arbeitete auch Olav Münzberg darin mit – ebenfalls unentgeltlich: „Aber von den Mittwochsdiskussionen dort habe ich sehr profitiert“, sagt er, der nach eigener Einschätzung „ein gestörtes Verhältnis zum Geld“ hat.

1973 wurde auch der staatlich alimentierte BRD-Schriftstellerverband (VS) in die IG Druck und Papier (nunmehr: IG Medien) integriert. Die scheinbar selbständige Industriegewerkschaft darf aber keine „Staatsknete“ annehmen, weswegen der vom Schicksal besonders begünstigte VS West- Berlin noch schnell die „Neue Gesellschaft für Literatur“ (NGL) ausgründete: „Als Geldwaschanlage, das darf man aber so nicht sagen.“ Zu den Gründern zählte Ingeborg Drewitz. Olav Münzberg saß von 1985 bis 1990 im Vorstand der NGL. 1989 wurde er Vorsitzender des Landesschriftstellerverbandes Berlin. Als solcher war er dann vor allem für die „Integration“ der Schriftstellerkollegen aus dem Osten verantwortlich. Während die Restgelder ihres DDR-Verbandes heute von einer Kulturstiftung verwaltet werden, die der 1995 aus dem Kultursenat ausgeschiedene Dietger Pforte leitet – aber das nur nebenbei.

Olav Münzberg gab 1995 einen dicken Rechenschaftsbericht der NLG heraus: „Literatur vor Ort“. Neben gesammelter Prosa und Poesie werden dort auf fast 100 Seiten sämtliche Veranstaltungen der NGL von 1974 bis 1994 aufgelistet. Vom Abend der „AG Lyrik“ – mit Bodo Morshäuser, über die „Maison de France“-Lesung von Aras Ören bis zu den „Berliner Autorentagen“ und den x-ten „Hörspieltagen“ – im Podewil. Tausendmal geschwitzt und gebangt, wieviel Leute kommen diesmal? Dann beim Lesen genuschelt, geraschelt, gehüstelt – aber gleich anschließend in der Kneipe nebenan wurde es dann gemütlich. Das wäre wieder mal geschafft! Hoffentlich zahlt man das Honorar sofort aus: „Bargeld lacht!“ (Goethe).

Beim „Literaturhaus Fasanenstraße“, das Olav Münzberg 1984 mitgründete, wurde das Restaurant – nebst Buchhandlung – gleich in die repräsentative Gartenvilla mit integriert. Gute Kulturpolitiker sind die geborenen Integratoren, was müssen sie nicht alles heim ins Reich holen. Punkmusik, Pankower Literaturwerkstätten, Love Parades... Noch die schrägste Volkstanzgruppe und die kleinste sexuelle Minderheit will etatmäßig bedacht sein. Und laufend gebiert diese häßliche Mittel-Metropole neue Kreativ-Scenes aus der schier grund-losen Unübersichtlichkeit heraus.

1979 war das z.B. die „AG Tucholsky“, die aus dem Moabiter Geburtshaus des Satirikers ein aktives Museum machen wollte. Auch hierbei war wieder Ingeborg Drewitz Rädelsführerin. Es gibt – durchaus gebildete – Leute, die können einfach nicht einer normalen anständigen Arbeit nachgehen – und Ruhe geben: „Die Schwierigkeit, ja zu sagen“ – ist im Westen inzwischen epidemisch geworden, im Osten spricht man von: „Kraft durch Nörgeln!“ Gerade das geteilte Berlin zog solche Leute lange Zeit wie magisch an. Hätte die Sowjetunion nicht schlappgemacht, gäbe es in der Frontstadt inzwischen kein einziges gewöhnlich – profitabel – genutztes Haus mehr. Wetten!

Den Berliner VS zog es nach der Wende, als all das Feingefügte plötzlich in Fluß geriet, konsequent aufs Wasser. Inspiriert von den erfolgreichen Schriftsteller- Kreuzfahrten des gesamtdeutschen VS – auf der Ostsee und im Schwarzen Meer –, initiierte er den „deutsch-polnischen Poetendampfer“ auf der Oder: „Ein kühnes Unternehmen – vor allem vom Finanziellen her“, so Olav Münzberg, der inzwischen auch der deutsch-polnischen Redaktion der Zeitschrift Wir (polnisch: Wirrwarr) angehört und sogar zum Vorsitzenden des „Wir e.V.“ wiedergewählt wurde.

Er wurde 1938 in Gleiwitz geboren, als Flüchtlingskind wuchs er in Bayern auf, studierte Jura in München und kam nach dem Mauerbau 1962 – gegenströmig – als Rechtsreferendar nach West-Berlin, wo er tagsüber im Gericht saß und nachts in Philosophie-Übungen. Der existentialistische Pariser Freiheitsbegriff wurde ihm dabei zu einer Theorie der Verantwortung: „Jeder ist verantwortlich für den Begriff des Menschen!“ In seinem kulturpolitischen Engagement geht das bis zur „Citizen Diplomacy“.

Wenn er beispielsweise in Jugoslawien an einer Gedenkstätte für die Opfer des deutschen Faschismus das Wort ergreifen soll – als deutsch delegierter Schriftsteller. Oder als offizieller Teilnehmer an deutsch-jüdischen Gesprächen (von Verband zu Verband quasi). Auch als Moderator bunter deutsch-polnischer Dichterabende in pommerschen Dom Kulturys. Vor allem aber als in die graue deutsch-deutsche Schriftsteller- Wiedervereinigung hineingeworfener Verbandsvorsitzender: „Diese ganze Zeit, das war eine absolute Überforderung. Wir hatten doch überhaupt keine Kenntnis von den Organisationsstrukturen da drüben. Uns hat das doch alles nie interessiert. Vielleicht, daß man ein- oder zweimal im Jahr rübergegangen ist. Und dann doch meistens auch nur ins Antiquariat der Karl-Marx-Buchhandlung – in der früheren Stalinallee. Ich war kein Antikommunist, das muß ich dazu sagen, aber die bürgerlichen Grundrechte waren mir eine Selbstverständlichkeit, und die vielen Sicherheitskräfte drüben – das war mir zu unangenehm. Ich habe dann einen Schnellkurs DDR gemacht...“

Und nun ist er 60 geworden. Es gibt dazu ein Gedicht von ihm über die „38er Generation“, womit er ironisch auf die „68er“ anspielt. 1968 gründete Olav Münzberg zusammen mit Kostas Papanastasiou, Peter Schneider und Michael Schneider sowie Barbara Schneider, die aus „Berkeley“ kam, das „Berliner Straßentheater“. Als erstes führten sie „spontan“ ein Stück zur Entlarvung der griechischen Militärdiktatur auf, zwei Tage nachdem in der TU ein „Hearing“ zum Thema stattgefunden hatte. Dann kam ein Stück gegen die „Notstandsgesetze“, mit dem sie in Westdeutschland auftraten. Im Wedding wurden sie von antikommunistisch-„verblendeten“ Rentnern bedroht: „Es war ein Versuch, abstrakte Begriffe – wie repressive Entsublimierung – verstehbar zu machen. Eines unserer Transparente kann das vielleicht verdeutlichen: die Köpfe von Marx, Lenin, Mao und Mozart. Solche gesellschaftlich-reflexiven Stücke haben nachher auch Eingang in die Schaubühne gefunden, überwogen dort sogar eine Zeitlang den Spielplan. Später wurde daraus Feinästhetik und jetzt eine Kulturkritik von rechts.“ Olav Münzberg war und ist dagegen ein Bühnen-Existentialist – „mit Respekt vor der Gewerkschaftsarbeit“ inzwischen.