Styroporkratzen für die Freunde alter Musik

Geschichten erzählen, in Erinnerungen schwelgen und ein nervöser Blixa Bargeld: Beim Berliner Atonal-Musikfestival traf sich die Avantgarde von gestern. Diverse Absagen, theoretische Defizite und sentimentale Ausrutscher zeugen von einer gewissen Eventmüdigkeit  ■ Von Gerrit Bartels

Als man am Samstag abend beim Atonal-Festival die Berliner Arena betrat, scheint während dieses viertägigen Musikfestivals alles zusammenzupassen: große, ungemütliche Fabrikhalle, viele vor der Bühne herumstehende Menschen, die meisten von ihnen ganz in Schwarz gekleidet. Auf der Bühne steht eine Art Orchester, dessen Mitglieder mit Streichbögen an Styroporplatten herumkratzen und auf diese Weise Geräusche erzeugen, die den Ohren ganz schön weh tun.

Ambiente, Atmosphäre und Sounds gehen hier ein einigermaßen gelungenes Wechselspiel ein. Bob Rutman, Dirigent des Styropororchester und Mann mit dem „Steel Cello Ensemble“, schreit dem Publikum zum Abschluß seines Auftritts die Worte „Gegen das Vergessen“ entgegen und verweist im selben Atemzug darauf, daß seine Tonträger und auch die Styroporplatten im hinteren Teil der Arena gekauft werden können. Auch wenn Rutman das mit dem Vergessen sicher anders gemeint hat, bringt er damit das diesjährige, nach neun Jahren Pause das erste Mal wieder stattfindende Atonal auf seinen wichtigsten inhaltlichen Nenner: Es bietet vor allem Gelegenheit, sich Geschichten zu erzählen und Erinnerungen auszutauschen.

So weiß ein altgedienter taz- Kollege zu berichten, daß die Leute 1983 reihenweise umfielen, weil sie so was wie das Piercen der Penisvorhaut noch nie gesehen hatten. Eine Mitarbeiterin einer Berliner Plattenfirma erzählt, sie hätte nach einem Atonal-Abend statt des gewohnten Kohlestaubs in ihrer Altbauwohnung vor allem Erdöl gerochen. „Da stampften wir in großen Öllachen herum und saßen auf überall rumstehenden Ölfässern.“ Wieder andere, ein wenig jünger als das größtenteils zwischen 30 und 40 Jahre alte Publikum, gestehen sich hinter vorgehaltener Hand, das einzige Atonal, das sie erlebt hätten, sei das 1990 im Bethanien gewesen: Von Legende, Pop-Geschichtsbewußtsein und sentimentalen Rückblicken war da keine Rede, Acid House und Techno standen auf dem Atonal-Plan, man wurde neu „bewegt“, und es war höchste Zeit, sich von liebgewonnenen Subkultur-Ritualen der Mauerstadt zu verabschieden.

Die Tradition wollten sie wahren, die Atonal-99-Veranstalter Schäumer und Hegemann, und gleichzeitig „junge und frische Musik“ präsentieren, wozu der notorische Trautonium-Erfinder Oscar Sala genauso gehörte wie eine ganze Reihe von Turntabelisten. Doch trotz des nicht unattraktiven Programms, trotz ausführlicher Berichterstattung, trotz des vielbeschworenen „internationalen Rufs“, den das Atonal allein wegen seines Namens hat: Es drängte sich in den vier Tagen vor allem der Eindruck eines mittelschweren Flops auf.

Da stand man also am Donnerstag abend im Glashaus im Berliner Bezirk Treptow, sah vor allem Kollegen und die sogenannten Medienpartner, lauschte den an Abiturientenparties erinnernden DJ- Sets des Ocean Clubs und ärgerte sich wegen der Absage von Jörg Follert aka „Wunder“. Tags darauf in der Arena wollte man eigentlich sofort wieder kehrtmachen. Nicht wegen Frieder Butzmann, der sehr rührend Grundwissen in Sachen Klängen weitergab und erzählte, was ein Ton bedeutet, was zwei, wie zwei aufeinanderfolgende sich anhören, wie schöne und schlechte Töne klingen. Sondern weil sich vor der 3.000 Leute Platz fassenden Hauptbühne gerade mal ca. 5o tummelten und die angekündigten Turntabelisten wie DJ-Weltmeister Craze, The Invisible Scratch Pickiz und die Scratch Perverts genauso fehlten wie Barry Schwartz und sein Schwermetall-Plattenspieler. Schwartz war zwar da, sein Equipment aber stand tagelang in den Aufbewahrungsräumen des Berliner Zolls.

Viele Absagen also (auch Alboth! traten nicht auf, sie beklagten mangelnde „technologische Voraussetzungen!“) und eine Publikumsresonanz, die gegen null tendierte. Vielleicht weil nach Berlin Beta, Congress 3000, Zeitkratzer, Festival für die Etwas Andere Musik etc. etc. eine gewisse Eventmüdigkeit in Berlin herrscht; vielleicht weil das Theoriefutter fehlte; vielleicht weil eben auch die aufgeklärtesten Pop-Freunde lieber zu Rammstein, Fatboy Slim oder Xavier Naidoo gehen, oder im Falle der Turntabelisten zu Snoop Dogg oder deutschen HipHoppern. Eine Szene, wie vielleicht bei den früheren Atonals, konstituiert sich halt nicht mehr unter dem Dach eines Festivals. Dafür sind mittlerweile die verschiedenen Musikszenen mitsamt ihren Anhängern allzu ausdifferenziert und verzweigt.

Zumal die gern ins Feld geführte „Durchbrechung von Hörgewohnheiten“ längst zum Kanon von Popkultur gehört. Die Alec- Empire-Posse von DHR beispielsweise läßt sich mittlerweile von Veranstaltern vertraglich garantieren, für Hörschäden keine Verantwortung in Form von Schadenersatz übernehmen zu müssen! Und wenn da die Neubauten eine Fackel anzünden, ein bißchen Kies auf einer Rutsche herunterrollen lassen und Blixa Bargeld von aufgehenden Sonnenbergen singt, wirkt das irgendwie albern und anachronistisch (bedenkt man da auch den perfekt inszenierten Rammstein- Bühnenzauber).

Blixa Bargeld, der mit hoher Wampe und recht hüftsteif über die Bühne gockelte, beteuerte zwar, er sei schon lange nicht mehr so nervös vor einem Auftritt gewesen. Doch trefflicher war da schon sein Intro zum Song „Haus der Lüge“, das er als ein Stück für die „Freunde alter Musik“ ankündigte. Und diese Freunde trollten sich schnell nach Ende des Neubauten-Gigs, die Technoproduzenten Air Liquide, Kerosene und Atom Heart wollten im Glashaus nur wenige von ihnen hören.

Auch wenn Stimmen wie diese am Ende vermehrt zu vernehmen waren: „Die Leute müssen sich an Atonal erst mal wieder gewöhnen“: Musik wie die an diesen vier Tagen präsentierte braucht das Label Atonal nicht, und es bleibt zu hoffen, daß das Festival nicht mehr als ein sentimentaler Ausrutscher war.