DDR-Spionagedienst wird entschlüsselt

■ Die Decodierung geheimer Daten der HVA durch die Gauck-Behörde ist nicht strafrechtlich, sondern politisch interessant

Bonn (taz) – Auch wenn die Gauck-Behörde in Berlin Ende letzten Jahres 180.564 Datensätze des DDR-Auslandsnachrichtendienstes HVA auf verschlüsselten Magnetbändern rekonstruieren konnte, für die Strafverfolgung ehemaliger Agenten spielen die neuen Erkenntnisse eine eher untergeordnete Rolle. Die Karlsruher Generalbundesanwaltschaft erwartet, daß trotz der neuen Erkenntnisse aus der HVA-internen Datenbank „Sira“ (System, Information, Recherche der Aufklärung) nur wenige neue Ermittlungsverfahren eingeleitet werden können. Politisch dagegen kann den neuen Informationen eine große Bedeutung zukommen.

Wie die Sprecherin der Bundesanwaltschaft, Eva Schübel, gestern erklärte, ist das Feld der Spionage „weitgehend abgegrast“. Strafrechtlich relevant sei heute nur noch „Landesverrat“. Die juristisch weniger schwerwiegenden Vorwürfe der „geheimdienstlichen Agententätigkeit“ seien inzwischen verjährt. Auch die Ermittlungsverfahren, die mangels Tatverdacht eingestellt wurden, könnten wegen der Verjährung nicht neu eröffnet werden.

Wie der Spiegel gestern berichtete, ist es Mitarbeitern der Gauck- Behörde kurz vor Weihnachten erstmals gelungen, eine auf vier Magnetbändern gespeicherte geheime Datenbank der HVA 05 zu entschlüsseln. Die Datei „Sira“ enthält Angaben über alle wichtigen Vorgänge der DDR-Auslandsspionage im Zeitraum zwischen 1969 und 1987. In der Datenbank sind die Kurzbeschreibungen der brisantesten Berichte und der gelieferten Dokumente von 4.500 Agenten erfaßt. Ob sich anhand der neuen Informationen nun strittige Spionagevorwürfe wie etwa der gegen den SPD-Politiker und Wehner-Vertrauten Karl Wienand klären lassen, ist derzeit noch offen. Wienand strebt eine Wiederaufnahme des Düsseldorfer Prozesses an, bei dem er zu einer zweieinhalbjährigen Freiheitsstrafe und zur Rückzahlung von einer Million Mark Agentenlohn verurteilt wurde. Der frühere Fraktionsgeschäftsführer beteuert seine Unschuld, in der „Sira“-Datei ist er hingegen als Lieferant von 393 Informationen erfaßt.

Die Datenbank „Sira“ listet Zehntausende Namen und Zahlenkolonnen auf. Stets nach dem gleichen Muster: Hinter dem Stichwort „Quelle“ stehen Registratur- Nummer und Tarnname. Als „Text“ folgt eine Kurzbeschreibung der Information, samt Eingangsdatum und Buchungsnummer. Bei aller Freude der Stasinachlaßverwalter, einen Schönheitsfehler weist die fulminante Datenbank doch auf: Sie nennt keine Klarnamen der im Westen tätigen Agenten. Eine Fundgrube sind die Magnetbänder aber allemal, kann doch erstmals konkret nachgezeichnet werden, was die Stasi wußte und welche Dokumente ihre Mitarbeiter im Westen beschafft hatten.

Zum Beispiel Rainer Rupp. Der einstige Topspion in der Brüsseler Nato-Zentrale und heutige Berater der PDS-Bundestagsfraktion, ist in „Sira“ mit seinem Decknamen „Topas“ erfaßt. Neu für die Ermittler ist: Ihm wird in der Stasi- Datei die Beschaffung von immerhin 1.037 teils höchstgeheimen Dokumenten zugeschrieben.

Im Bundeskanzleramt wird „Sira“ nicht ganz so hoch gehandelt. Der Vorgang wird als nicht ganz neu bezeichnet. Und wie die Bundesanwälte erwartet auch das Kanzleramt keine sensationellen Enthüllungen. Brisant wäre es aber, wenn es gelänge, die jetzt rekonstruierte Datenbank mit anderen von der Stasi angefertigten Unterlagen zusammenzuführen. Bonn versucht seit längerem, Unterlagen der HVA von den USA zurückzubekommen. Den amerikanischen Geheimdiensten liegt eine komplette Auflistung der HVA-Mitarbeiter für das Jahr 1988 vor. Die Unterlagen beschaffte die CIA während der Wende. Deckname der Beschaffungsaktion war „Rosenwood“ – und anders als bei „Sira“ werden in den ergatterten Rosenholz-Aufzeichnungen neben Decknamen und Registraturen auch die Klarnamen der im Ausland eingesetzten Mitarbeiter aufgeführt. Diese Unterlagen sollen auch den russischen Behörden vorliegen. Über die einheitlich von der HVA vergebenen jeweiligen Registrier- Nummern lassen sich die verschiedenen Dateien miteinander abgleichen. Am Ende dürfte das Auslandsnetz der HVA den Fahndern als offenes Buch vorliegen und der Nimbus von Markus Wolfs Auslandsdienst dahin sein.

Bisher sperrt sich die Clinton- Administration, ihr Wissen mit den bundesdeutschen Behörden zu teilen. Die Gespräche auf Fachebene führen nicht weiter. Kanzleramtsminister Bodo Hombach erklärte den Vorgang deshalb nun zur Chefsache. Wenn er das Anliegen in Washington vorträgt, muß er nicht als Bittsteller auftreten. Sein Angebot dürfte heißen: Tausche Akten, meine gegen deine. Wolfgang Gast