Der Klang als Lebewesen

■ Bremer Podium widmete sich dem verstorbenen Gérard Grisey

Mit dem letzten „Bremer Podium“ gelang der Redakteurin für Neue Musik bei Radio Bremen Marita Emigholz aus zwei Gründen ein Höhepunkt der Reihe. Den einen Grund verantwortet sie, der andere kam unfreiwllig dazu. Der 1946 geborene Gérard Grisey ist in Deutschland noch weitgehend unbekannt, weswegen diesem Podium die Funktion einer längst überfälligen Information zukam. Grisey ist im vergangenen November überraschend an einem Gehirnschlag gestorben, und so wurde dieses Konzert ungeplant zu einem ersten Gedenkkonzert. Auf allerhöchstem Niveau, was dem Freiburger Ensemble Recherche unter der Leitung von Kwamé Ryan – der erst 28jährige wurde soeben zum Freiburger Generalmusikdirektor gewählt – zu verdanken ist.

Grisey hat die Entdeckung des Klanges zur Grundlage seines Komponierens gemacht. Das ist nicht neu, die ersten Klangkompositionen gab es Mitte der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre: „Metastasis“ von Iannis Xenakis (1954) „Anaklasis“ von Krzysztof Penderecki (1959) und „Atmosphères“ von György Ligeti (1961) sind große und unvergessene Beispiele dieser vibrierenden Klangnetze. Im Unterschied zu den Parametern Melodik, Harmonik und Rhythmik ist der Klang selbst die Substanz der Musik, womit sich die Klangfarbe als eigener Parameter emanzipiert. Dazu ist an John Cage zu erinnern, der 1951 mit seiner gewürfelten „Music of Changes“ der „Gewalt über die Klänge“ eine Absage erteilte, auch an Pierre Schaeffer und Pierre Henry mit ihrer „Musique Concrète“. Vieles, was Gérard Grisey sagt, klingt wie aus dieser Zeit: „Spielen, nicht mehr mit Noten, sondern mit der Natur der Klänge selbst – und ich sage spielen, nicht beherrschen.“ Oder auch „Die Musik ist das Werden der Klänge“.

Doch von einlullender Tonalität oder von mediativer Obertonigkeit ist die Arbeit von Grisey weit entfernt. „Es handelt sich hier freilich nicht um tonale Musik, es geht vielmehr darum, zu erfassen, was in ihrem Funktionieren heute noch an Aktuellem und Neuem steckt“, sagt Grisey und weiter, daß es ihn interessiert, die Unterschiede der Klänge und auch Geräusche kompositorisch zu erfassen, den Klang als ein lebendiges Lebewesen zu verstehen und zu gestalten. Dies erfordert eine naturwissenschaftlich rationale Herangehensweise und eine genaue Auseinandersetzung mit der Zeit und ihrer Relativität.

Entscheidend für die Hörlust ist nicht die ästhetische Theorie, sondern das, was klingt. Und das ist Gérard Grisey von einer umwerfenden Kraft, Erfindungsgabe, Neuheit und innerlichen Stringenz. In „Talea“ für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier“ (1986) zum Beispiel, in dem eigentlich eine simple dramaturgische Idee – das Zusammentreffen von schnellen fortissimo-Gesten mit pianissimo-Leitern – auf fast archetypische Weise vorgeführt wird. Oder eine bis an die Grenzen des Machbaren und damit Hörbaren gestaltete Schnelligkeit im ersten Satz von „Vortex Temporum – Strudel der Zeit“ für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Cello und Klavier. Man meint, an erregenden akustischen Zerlegungsprozessen wie unter einem Mikroskop teilzunehmen. Am noch 1969 seriell konzipierten „Charme“ für Klarinette läßt sich der Ausgangspunkt seines Komponierens noch einmal nachvollziehen. Wie die anderen Stücke zeigte auch „Périodes“ für Flöte, Klarinette, Posaune, Violine, Viola, Cello und Kontrabaß die schwierigsten interpretatorischen Prinzipien von Griseys heute einflußreicher Musik: die Ausbalancierung der Klänge untereinander und die Virtuosität. Beides konnte nicht besser aufgehoben sein als beim Ensemble Recherche. Ein bedeutender Abend, der durch den kompetenten und informativen Vortrag von Peter Niklas Wilson würdig eingeführt wurde. Ute Schalz-Laurenze