„Sogar Erich Honecker hatte Angst“

Das Gedenkjahr beginnt: Warum verlief die Revolution in der DDR friedlich? Weil Anfang Oktober 1989 in Dresden nicht geschossen wurde. Beteiligte wie Modrow, Berghofer und die „Gruppe der 20“ erinnern sich  ■ Aus Dresden Nick Reimer

Nun hat also auch das Revolutionsgedenkjahr begonnen. Am Montag trafen sich im Dresdner Hotel Mercure die lokalen Akteure des Herbstes 1989, um über das Damals zu reden. Eingeladen hatte der Bertelsmann-Buchclub, auf den der Dresdner Oberbürgermeister – einst Sprecher der „Gruppe der 20“ – gleich in seiner Eröffnungsrede einging: „Bevor Bertelsmann seinen ersten Buchladen in Dresden eröffnen konnte“, sagte Herbert Wagner (CDU), „gab es die friedliche Revolution.“

Solche tiefen dialektischen Erkenntnisse sollten dem überfüllten Saal in der zweistündigen Podiumsdiskussion jedoch erspart bleiben. Obwohl sich die Gegner von einst gegenübersaßen – hier der damalige SED-Bezirkschef Hans Modrow, der ehemalige Polizeioberleutnant Detlef Puppemann und Ex-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und dort Vertreter der „Gruppe der 20“, Pfarrer Frank Richter, Erich Sobeslavsky sowie Frank Neubert –, schwirrte über der Szenerie eher ein wohlwollendes „Laßt uns mal gemeinsam erinnern“ als ein „Du warst der Hund!“

Es gab keine Schwarzweißmalerei. Sogar die emotionale Kritik der einstigen Oppositionellen wurde mit einem höflichen „Entschuldigen Sie bitte, aber“ eingeleitet. Die Diskussion zeigte: Der Versuch eines dritten Wegs jenseits von stalinistischem Sozialismus oder bundesdeutschem Kapitalismus ist bloß noch der Erinnerung wert.

Von Dresden ging Anfang Oktober 1989 einer der entscheidenden Impulse der Wende in der DDR aus. Die bundesdeutsche Botschaft in Prag war Ende September mit Ausreisewilligen zum Bersten gefüllt, der Zustrom riß nicht ab. Bonn und Ostberlin hatten sich geeinigt, die Menschen per Zug gen Bundesrepublik zu bringen, und zwar nicht direkt, sondern über den „Umweg Deutsche Demokratische Republik“. Die Führung des Arbeiter-und-Bauern- Staates wollte, um sich außenpolitisch keine Blöße zu geben, die DDR-Bürger selbst aus ihrer Staatsbürgerschaft entlassen. Der Transport war für den 4. Oktober in drei Zügen über die Strecke Prag–Dresden–Hof vorgesehen.

An diesem 4. Oktober wurde aber auch die freie Einreise in die ČSSR abgeschafft. Wer über die Grenze wollte, wurde zurückgeschickt. Viele Dresdner, die mit der DDR schon abgeschlossen hatten, hofften, einen Platz in den Zügen ergattern zu können. Der Hauptbahnhof wurde von den „Organen der Volkspolizei“ hermetisch abgeriegelt. Erstmals in der jüngeren Geschichte der DDR kam es zu einer heftigen Straßenschlacht zwischen Polizei und Bevölkerung. Einschließlich der folgenden Tage, an denen es immer wieder zu Demonstrationen kam, wurden 1.303 Personen „zugeführt“, wie es so schön in der DDR hieß, das heißt: verhaftet.

Der damalige Oberbürgermeister Berghofer, heute selbständiger Berater in Berlin, sprach am Montag von kafkaesken Zuständen am 7. Oktober, dem 40. DDR-Geburtstag: „Während vor ausländischen Delegationen im Festsaal des Rathauses Reden auf die Errungenschaften des Sozialismus unter der vertrauensvollen Führung des Genossen Erich Honecker gehalten wurden, gingen draußen die Menschen zur Demonstration gegen das System.“

Die Spirale der Gewalt der Staatsmacht gegen die Demonstranten drehte sich immer schneller. Bis sie plötzlich, am Abend des 8. Oktober, still stand. Kaplan Richter („Die Demonstranten waren auf der Prager Straße von der Polizei eingekesselt“) ging auf die Polizei zu. Oberleutnant Puppemann („Die Demonstranten hatten uns eingekesselt“) war, so sagt er heute, „erleichtert“. Noch am Nachmittag hatte er über 200 Menschen festnehmen lassen. „Ich fragte mich plötzlich, wieso die Volkspolizei das Volk verprügelt.“

Richter und Puppemann riefen bei Berghofer an. Man wolle reden. Aus den Demonstranten wurden 20 als „Delegierte“ ausgewählt – die „Gruppe der 20“. Mit dem folgenden Gespräch zwischen Staatsmacht und Demonstranten war erstmals in der Geschichte der DDR Dialog an die Stelle von Repressionen und Gewalt gerückt.

Während am 9. Oktober 1989 bei der Montagsdemonstration in Leipzig Scharfschützen auf den Dächern der Innenstadt postiert waren, ging in Dresden die Kunde um: Die Regierung spricht dort mit dem Volk. Und: Man hat sich auf Gewaltverzicht geeinigt. Nicht nur Berghofer hatte mit Leipzig telefoniert.

Auch der Chef der Volkspolizei, Dickel, und andere hatten nach den Dresdner Erfahrungen angeordnet: Es darf nicht geschossen werden. Zumindest die Heldenfrage scheint geklärt zu sein: „Die kleinen Leute von unten waren es, die alles riskiert haben“, sagte Pfarrer Richter. Und Berghofer konnte unwidersprochen hinzufügen: „In der SED gab es ein mächtiges Potential, das nicht bereit war, so weiter mitzumachen.“

Dresden galt, nicht zuletzt wegen Modrow und Berghofer, als einer der Kristallisationspunkte der Perestroika in der DDR. Modrow wurde vor allem von den Westmedien gar als Reformer, als der Hoffnungsträger der DDR stilisiert. „Ich bin auch noch nach Kohls Rede in Dresden für einen anderen Sozialismus in der DDR eingetreten“, sagte der sichtlich gealterte Modrow.

Erich Sobeslavsky erinnerte daran, daß auch das Nachwendeleben der „Gruppenmitglieder“ nicht immer einfach war. „Viele sind arbeitslos, einige leben von Sozialhilfe. Eine Frau ist nach Australien ausgewandert. Zwei Mitglieder begingen Selbstmord.“ Am Montag begann auch, was sich hoffentlich im Jahre zehn nach der „friedlichen Revolution“ häufen wird: das rigorose Aufdecken von Wendelegenden. Die „Gruppe der 20“ sei keineswegs, wie von Modrow behauptet, vom ersten Gespräch an akzeptiert gewesen, stellte Frank Neumann klar: „Wir haben uns alles ganz, ganz hart erkämpfen müssen.“ Verstehen müsse man das, warb Berghofer. „Schließlich hatten wir enormem Druck von oben standzuhalten.“ Da sei auch Angst gewesen. „Mir ist heute abend wieder bewußt geworden“, sagte Richter, „wieviel Angst in der DDR da war.“ Alle hätten Angst gehabt, die „unten“ genauso wie die „oben“. „Sogar Erich Honecker hatte Angst.“

„Die Ostdeutschen“, sagte Frank Richter, „haben sich ihre Demokratie selbst erkämpft. Wir haben uns das erstritten, was die Alliierten nach dem Krieg in Westdeutschland installiert haben. Das sollte endlich eine Quelle des Selbstvertrauens sein.“ Das wäre ein gutes Schlußwort gewesen. Aber das Gedenkjahr hat gerade erst begonnen.