Christoph Biermann
: In Fußballand

■ Die Wahrheit über Netzer und Wembley 1972 ist: Das Spiel war gar nicht so gut!

Verdammt, denke ich und beginne unruhig auf dem Sofa herumzurutschen. Das darf doch nicht wahr sein. Schließlich gehört es doch zu den Grundannahmen der deutschen Kulturgeschichte, daß der 3:1-Sieg der Nationalmannschaft am 29. April 1972 im Wembley-Stadion gegen England eine der größten Hervorbringungen des deutschen Fußballs, wenn nicht seine größte überhaupt gewesen ist.

„Traumfußball aus dem Jahr 2000“ schrieb damals die französische Sportzeitung L'Equipe. Und Karl-Heinz Bohrer, Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in England, lieferte mit seinem zeitgenössischen Bericht seine legendäre, in der Nachfolge hundertfach genutzte Vorlage: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte thrill. Thrill, das ist das Ereignis, das nicht erwartete Manöver, das die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, thrill, das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. Thrill ist Wembley.“

Gut gesagt, und ich würde hier auf meinem Sofa gerne in begeisterte Zustimmung ausbrechen. Aber unaufhörlich läuft das Videoband ab mit dem erstem Sieg einer deutschen Nationalmannschaft in England, mit der ersten Heimniederlage einer englischen Nationalmannschaft nach sieben Jahren, der erst fünften gegen ein außerbritisches Team in der Geschichte des Fußballs.

Die deutsche Mannschaft spielt gut, keine Frage, aber sicherlich nicht traumhaft. Dafür können sich allein die Angreifer Held, Müller und Grabowski zu selten durchsetzen. Paul Breitner ist prima, in seinem dritten Länderspiel interpretiert er den Job als rechter Verteidiger schon wie ein moderner Außenbahnspieler und bearbeitet die ganze Länge des Spielfelds. Der tapfere Höttges neutralisiert Hurst, der gegen ihn im WM-Finale 1966 drei Tore erzielt hatte. Ebenso sicher steht Schwarzenbeck gegen Chivers.

Beckenbauer ist der Souverän der Abwehr, elegant und wunderbar anzuschauen sein Spiel, aber er überquert nur selten die Mittellinie. Dank Hoeneß und Wimmer ist die deutsche Mannschaft deutlich lauffreudiger als der Gegner und technisch stärker. Phasenweise kombiniert sie leicht und fast selbstverständlich. Aber Günter Netzer kommt nur dreimal wirklich aus der Tiefe des Raums. Das ist thrill, doch eben rar, zumeist leitet Netzer intelligente, aber wenig spektakuläre Seitenwechsel ein.

Zur Pause führt die deutsche Mannschaft nicht unverdient mit 1:0, Hoeneß hat von einem haarsträubenden Fehler Moores profitiert, der im eigenen Strafraum den Ball verliert. Einige andere Weltmeister von 66 sind auch noch dabei. Aber man kann Hurst, Ball und den anderen in jenem Viertelfinal-Hinspiel um die Europameisterschaft ansehen, daß die Jahre nicht spurlos vergangen sind. Gegen das alternde englische Team gibt die deutsche Mannschaft in der zweiten Halbzeit die Initiative völlig ab.

Breitner ist nur noch Außenverteidiger, Beckenbauer letzter Mann und für Netzer kein Spiel mehr da, das es zu gestalten gäbe. Etwas glücklich hält die Führung bis zur 77. Minute, dann führt Sepp Maiers einziger Fehler, er klatscht einen Ball nach vorne ab, zum Ausgleich von Lee. Das Elfmetertor von Netzer in der 84. und Müllers 3:1 in der 89. entspringen den beiden einzigen Torchancen im zweiten Abschnitt. Was für ein verblüffender Schluß; nicht ganz unverdient, aber doch glücklich.

Fast 27 Jahre nachdem ich das Spiel zuletzt gesehen habe, kann ich auf meinem Sofa die Spannung und Aufregung noch nachspüren. Doch wie kam es zum Mythos um dieses Spiel? Die neunzig Minuten allein tragen die Legende nicht. So gut, wie inzwischen immer erzählt, war die deutsche Mannschaft nicht. In Wahrheit war der Sieg in Wembley vor allem ein Versprechen: Nicht besser kämpfen, sondern besser spielen. Gewinnen durch schönen Fußball, das war Wembley. Von daher soll die Legende noch lange leben, egal, was das Videoband sagt.