Leninistischer Luxusleib

Im Laboratorium, in dem Lenin nach seinem Tod vor 75 Jahren einbalsamiert wurde, geht es nun um die finale Wiederherstellung von kugelzerfetzten Gangsterleichen  ■ Von Helmut Höge

Es ist eine Schande, daß zu Lenins 75. Todestag, er starb am 21. Januar 1924, nur ein einziges Buch erschienen ist. Und das befaßt sich ausgerechnet mit dem Drum und Dran der Einbalsamierung seiner Leiche. Immerhin, diese Geschichte ist ziemlich instruktiv. Der Autor, Ilya Zbarski, hatte als Sohn und Mitarbeiter des späteren Leiters des Lenin-Mausoleum-Laboratoriums, in dem zuletzt über hundert Wissenschaftler tätig waren, privilegierten Zugang zu diesem gruseligen Kultzentrum des Staatskommunismus. Freilich durfte er bis heute die wichtigsten Aufzeichnungen seines Vater, Boris Iljitsch Zbarski, nicht einsehen.

Das Mausoleums-Laboratorium ging aus einer Initiative des Ausschusses für die Verewigung des Andenkens an Lenin hervor, der sich erstmalig am 5. März 1924 unter dem Vorsitz des KGB-Chefs Felix Dserschinski zusammensetzte. Nach dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion wurde es samt Leiche ins sibirische Tjumen ausgelagert und nach dem Krieg zügig zu einem „Weltzentrum der Einbalsamierung“ ausgebaut. Das heißt: Im Anschluß an die Konservierung der Leiche Stalins präparierten die Mitarbeiter des Laboratoriums auch die Kommunistenführer Georgi Dimitroff (Bulgarien), Tschoibalsan (Mongolei), Ho Chi Minh (Vietnam), Agostinho Neto (Angola), Lindon Forbes Burnham (Guyana) und Kim Il Sung (Nord-Korea) nach Art der ägyptischen Pharaonen: für die Ewigkeit.

„Er trägt eine Uniform, und die eine Hand ist leicht zur Faust geballt. Selbst noch im Tode ist er der Diktator“, schreibt der junge Nehru 1929 nach einem Besuch im Lenin-Mausoleum.

Nachdem ihnen 1991 achtzig Prozent ihres Jahresbudgets gekürzt wurden, empfahl der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow dem Laboratorium, sich mit einem „Ritual Service“ halbwegs selbständig zu machen, also auch Einbalsamierungsaufträge von eher antikommunistischen Neureichen anzunehmen: „Angesichts der rasant ansteigenden Kriminalität – 25.000 Morde allein im Jahr 1996 – kam der Vorschlag wie gerufen“, schreibt der Autor, der heute – als 85jähriger – nicht mehr beruflich tätig ist. Die optische Wiederherrichtung dieser Privatverbrecher kostet – je nachdem, wie übel sie zugerichtet beziehungsweise zerschossen wurden – zwischen 1.500 und 10.000 Dollar. Im Gegensatz zu Lenin, der bis heute regelmäßig Balsambäder bekommt, werden ihre Leichen jedoch nicht dauerhaft konserviert, sondern nur für die Beerdigung präpariert. Anschließend kommen sie in Luxussärge, die Ritual Service ebenfalls im Angebot hat. Die Preise dafür schwanken zwischen 5.000 Dollar für einen Holzsarg made in USA und 20.000 Dollar für eine russische Kristallglasversion.

Zur Verewigung der Gangster dient heute eine neue Grabsteintechnik. Dabei wird ihr überlebensgroßes Foto auf eine bis zu drei Meter hohe Granit- oder Malachitplatte gelegt und mit einem Spezialverfahren eingraviert. Die islamischen Banden (etwa in Jekaterinburg) bevorzugen Doppelporträts – auf beiden Seiten des Steins. Rund 65.000 Dollar zahlen sie dafür. Das Gravurverfahren geht auf den in San Francisco lebenden Russen Leonid Rader zurück. Die Regisseurin Kira Rejk drehte einen Film über seine Kunst: „Art in Stone“. In der letzten Nummer der Moskauer Literaturzeitschrift NLO (33/98) versuchte Olga Matich eine erste kulturhistorische Würdigung dieser russischen Verewigungskultur – vom Bolschewistenführer Lenin bis zur postsowjetischen Mafia. Letztere rekrutiert sich vor allem aus ehemaligen Profisportlern, Bodybuildern, Soldaten und Ex- KGBlern. Statt mit Orden sind sie mit „Emblemen des schnellen Abgangs“ ausgestattet – auf ihren Grabsteinporträts: Mercedes- Schlüssel, Handys, Markenturnschuhe. Olga Matich nennt das „Fotorealismus“, Ilya Zbarski spricht von einer Verewigung ihrer Alltagssituation: „Sie tragen meist einen Adidas-Trainingsanzug, die obligatorische Arbeitskleidung der russischen Mafiosi.“

Handelte es sich um einen Anführer oder Brigadier, bleibt er es auch als Toter so lange, bis sich in der Bande ein neuer herausgemendelt hat. An seinem Geburtstag und an seinem Todestag werden große Gelage am Grab veranstaltet – mit bis zu „mehreren tausend Personen“, schreibt Zbarski, der anscheinend bei der Begräbnisfeier des Jakaterinburger „Paten“ der Zentralnije-Bande, Oleg Wargin, dabei war. Dieser ganze kostspielige Auferstehungsaufwand soll bewirken, daß der Betreffende über seinen Tod hinaus „große physische Kraft und ökonomische sowie politische Macht ausstrahlt“ – für seine Gegner ebenso wie für seine Bande beziehungsweise Partei. Es spricht einiges dafür, daß auch noch der letzte „Men in Sportswear“ (MiS) ein bis in den Tod treuer Leninist gewesen ist: Bereits unter Andropow wurden von verschiedenen ZK-Braintrusts Szenarien ausgearbeitet, die den Machterhalt der Parteielite in einer vom „neuen Denken“ bestimmten sozialistischen „Transformationsperiode“ gewährleisten sollten.

Das dann von Gorbatschow favorisierte Szenarium sah eine „Umwandlung des Kollektivbesitzes der Nomenklatura in Privatbesitz ihrer einzelnen Mitglieder“ vor, wie der ehemalige ZK-Mitarbeiter Jewgeni Nowikow 1994 in New York berichtete. Die drei sich nun bekriegenden Jekaterinburger Banden befaßten sich mit Edelmetallhandel. Den bisher teuersten Verewigungsluxus leistete sich laut Ilya Zbarski der Präsident der größten russischen Erdölgesellschaft, Lukoil, Wagit Alekperow, bereits zu Lebzeiten: Für 250.000 Dollar ließ er sich ein Mausoleum in Form des Tadsch Mahal bauen. Auch sein Grabsteinporträt darin ist bereits fix und fertig. Wenn Lenins Leiche längst zu Staub zerfallen ist, wird es noch wie neu aussehen: die Gravurtechnik soll angeblich 20.000 Jahre halten.

Lenin wird derzeit quasi ehrenamtlich balsamisch versorgt: Ein „Mausoleum-Fonds“ ermöglicht es, daß zweimal wöchentlich eine zwölfköpfige Wissenschaftlerbrigade anrückt, um die notwendigen Restaurationsarbeiten an seiner Leiche durchzuführen. Sie tauschen mal hier einen Fuß und mal da eine Hand aus, wird behauptet. Sein schon 1924 entferntes Gehirn soll angeblich ein Wissenschaftler in seiner Aktentasche nach Amerika verschleppt haben, um es dort zu versilbern. Ilya Zbarski äußert sich darüber nicht. Trotz der Privilegien, die er „in all den Jahren im Schatten und im Schutz des Mausoleums genoß“, plädiert er nun dafür, Lenins Überreste, die eigentlich nur noch aus Kopf und Schwanz bestehen können, endlich „zu beerdigen“.

Ilya Zbarski: „Lenin und andere Leichen“. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 1999, 216 S., 39,80DM