Mehr als vier Pizza Mozzarella

■ Steuerstreit, Verfassungsgerichtsurteil: Die rot-grüne Politik der materiellen Umverteilung wird zum Spektakel. Neue Ziele müssen her.

Vier Pizza Mozzarella. 40 Mark mehr im Monat. Soviel bekommt eine normal verdienende vierköpfige Familie im Osten zusätzlich heraus, wenn im Januar und dann April dieses Jahres die rot-grünen Steuer- und Sozialreformen greifen. Die Verteilungseffekte von Steuersätzen, Kindergeld, Ökosteuer und Rentenbeiträgen sind bescheiden. Nach den Berechnungen des Bundes der Steuerzahler darf sich künftig eine gutverdienende Kölner Familie zwei Kinokarten mehr, ein Westberliner Single einen Cocktail an der Bar zusätzlich genehmigen. Mehr ist nicht drin. Die rot-grüne Politik der materiellen Umverteilung stößt schnell an ihre Grenzen.

Die Grenzen werden um so sichtbarer, als jetzt sogar noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts der rot-grünen Regierung eine neue Mammutaufgabe beschert: Die Freibeträge für verheiratete Elternpaare müssen so aufgestockt werden, daß dem Finanzminister 20 Milliarden Mark Steuermindereinnahmen drohen. Dieses Geld muß irgendwo anders herkommen. Vielleicht durch eine Beschränkung des Ehegattensplittings? Durch höhere Verbrauchssteuern? Durch Kürzungen von Subventionen?

Das Urteil ist deswegen so bahnbrechend, weil das Bundesverfassungsgericht damit der Regierung in einem kurzen Zeitraum eine gigantische Umverteilungsaufgabe auferlegt. Karlsruhe regiert. Was den Spielraum von Rot- Grün noch weiter beschränkt.

Mit leicht gequältem Blick versicherten die rot-grünen Finanz- und Sozialpolitiker gestern, daß das Urteil doch eine feine Sache sei für die Familien, man müsse das Geld halt irgendwo aufbringen. In Wirklichkeit hat die rot-grüne Regierung am Dienstag noch mehr von ihrer Handlungsautonomie eingebüßt, jenseits von Wirtschaftszwängen und Verbandslobbyismus.

Was aber kann eine rot-grüne Sozialpolitik dann überhaupt noch verändern, noch bewirken an sinnlich erfahrbaren Verbesserungen im Lebensalltag der Leute? Das ist die Kernfrage, jetzt, nach der ersten Regierungsphase. Die WählerInnen haben SPD und Grüne nicht nur gewählt, um sie an die Macht zu bringen, sondern auch, um sie an der Macht agieren zu sehen.

Der französische Philosoph Jean Baudrillard diagnostizierte das Phänomen in den 80er Jahren, als in Frankreich die Sozialisten ans Ruder kamen: Die Wähler waren vor allem neugierig auf das „Spektakel“, die Sozialisten in der Verantwortung zu erleben.

An Rot-Grün entscheidet sich in den Augen vieler WählerInnen, ob eine neue gewählte Politik überhaupt noch spürbar sein kann bei der Erfahrung von Ungleichheit, bei den Problemen der Jobsuche. Daß die WählerInnen diese politische Potenz testen wollen, hat Bundeskanzler Gerhard Schröder von Anfang an gewußt. Selten zuvor verbreiteten politische Vertreter so schnell so viele Gesetzesvorschläge – und modifizierten sie genauso schnell wieder. Nicht nur Teile der Steuerreform, auch die angebliche Reform der 630-Mark-Jobs ist Beispiel für diesen Aktionismus.

Erst sollten die geringfügigen Jobs teurer werden, um die Ungerechtigkeit gegenüber den Normaljobs abzubauen. Dann ruderte Schröder wieder zurück, aus Angst vor den hinzuverdienenden Ehefrauen und deren Familien. Die Gegner jeder Umverteilung sitzen immer auch in der sogenannten neuen Mitte. Die Umverteilungsproblematik wird sich verschärfen, wenn jetzt mit den 20 Milliarden Mark an drohenden Steuermindereinnahmen durch das Verfassungsgerichtsurteil jongliert wird. Schafft man im Gegenzug das Ehegattensplitting ab, ziehen sofort kinderlose Ehepaare vor das Bundesverfassungsgericht.

Abgesehen davon, daß sich mit den neuen steuerlichen Haushaltsfreibeträgen für verheiratete Eltern ein Gerechtigkeitsproblem stellen würde – bevorzugt würden die gutverdienenden Eltern. Schlechter gestellte Familien hätten nichts davon.

Immer wenn irgendwo eine Gerechtigkeitslücke gestopft werden soll, reißt anderswo eine neue auf. Das ist das Dilemma von Rot- Grün. Oder andersherum: Jeder will zwar ein bißchen kassieren an der neuen Regierung, aber keiner will mehr einzahlen. Die politische Sprache versucht dieses Dilemma zu kaschieren. So heißen die neuen Abgaben für die 630-Mark-Jobs „Sozialversicherungsbeiträge“. In Wirklichkeit sind es schlichtweg Pflichtabgaben der Arbeitgeber, durch die niemand automatisch Versicherungsansprüche erwirbt, es sei denn, die Beschäftigten zahlen ihrerseits freiwillig was dazu.

Eine Verbraucherabgabe nennt man „Ökosteuer“, obwohl nach den ersten Entwürfen gerade die energieintensiven Unternehmen davon ausgespart bleiben sollen. Ein neuer Vorruhestandsobolus soll „Tariffonds“ heißen, so als handele es sich hierbei um eine Kapitalanlage. In Wirklichkeit ist damit bislang jedoch ein neues intergenerationales Umlageverfahren gemeint, zu Lasten der Jüngeren.

Doch so wird Umverteilungspolitik zum reinen Spektakel. Rot- Grün sollte sich daher auf neue politische Felder wagen. Anders ist eine handlungsstarke Sozialpolitik nicht möglich. Ein Beispiel dafür könnten die Gespräche über ein „Bündnis für Arbeit“ sein, bislang nur eine Theatervorstellung der Interessenvertreter. Warum soll eine Regierung nicht „Lohnempfehlungen“ abgeben dürfen, wie sie in Dänemark beispielsweise schon üblich sind? Die Verhandlungsfreiheit der Tarifparteien würde dadurch nicht beschränkt.

Und warum soll eine Bundesregierung nicht konkret mit einer gesetzlichen Kappung der Überstunden drohen, wenn sich die Tarifparteien nicht über eine Eindämmung der Mehrarbeit einigen können? Warum unternimmt man nicht einen zeitlich und regional begrenzten Versuch zu einem Niedriglohnsektor, der endlich Aufschluß gäbe über dessen Jobchancen?

In einer komplexen Gesellschaft muß eine Regierung vielleicht kleinere Gerechtigkeitslücken offen lassen, um größere zu vermeiden. Die größeren Gerechtigkeitslücken aber entstehen dadurch, daß nichts passiert. Das Problem, wer künftig wie welche Renten zahlen soll, ist dafür das beste Beispiel. Die Sozialdemokraten drücken sich vor dieser unangenehmen Frage, die nur mit Kürzungen beantwortet werden kann.

Vielleicht ist es vielen WählerInnen tatsächlich lieber, wenn unter Rot-Grün möglichst nichts passiert. Vielleicht ist es aber auch genau umgekehrt. Diese Ambivalenz der WählerInnen verunsichert die rot-grüne Sozialpolitik. Sie ist ihr Problem. Barbara Dribbusch