Völlig abnormal – typisch Clinton

In seiner Regierungserklärung zur Lage der Nation zog der US-Präsident eine Erfolgsbilanz – und verlor kein Wort über das Amtsenthebungsverfahren  ■ Aus Washington Peter Tautfest

Knapp anderthalb Stunden redete Bill Clinton – an die hundert Mal von frenetischem Beifall und stehenden Ovationen unterbrochen, das war die State of the Union 1999, die letzte Rede zur Lage der US-amerikanischen Nation in diesem Jahrhundert. Alles an dieser Rede war ungewöhnlich, und doch waren Umstände und Inhalt typisch Clinton.

Letztes Jahr gab er seine jährliche Regierungserklärung eine Woche nach dem Bekanntwerden seines Verhältnisses zu einer Praktikantin im Weißen Haus ab, und dieses Jahr sprach er in der Kammer, die ihn unter Staatsanklage gestellt hatte, und vor den Senatoren, die über ihn zu Gericht sitzen – und noch vor Stunden den ersten Ausführungen seines Verteidigers Charles Ruff gelauscht hatten.

Anwesend war das Oberste Gericht, dessen Vorsitzender die Verhandlung über die Amtsenthebung Clintons im Senat leitet. „Daß Clinton diese Rede überhaupt hielt, ist schon ein Sieg“, sagte John Conyers, der Demokratische Abgeordnete aus Michigan, der die Opposition gegen das Impeachment im Repräsentantenhaus angeführt hatte, „die Republikaner wollten den Präsidenten daran hindern, die Amtsgeschäfte überhaupt weiterzuführen.“

So ungefähr muß das die republikanische Seite auch empfunden haben. Anders als sonst geriet die State of the Union nicht zur partei- und fraktionsübergreifenden Demonstration US-amerikanischen Patriotismus, die alle mitreißt. Übel gelaunt schwieg der rechte Flügel des Hauses, kaum mal rührte sich hier die Hand zum Applaus. Die Abgeordneten, die die Anklage vor dem Senat vertreten, saßen steinern da und sahen aus, als hätten sie Kröten verschluckt.

Und auch das war typisch für Clinton: Als gäbe es kein Impeachment, als hätte er nicht ein Jahr hinter sich, in dem Skandal und Sensationen, Peinlichkeiten und Krisen sich ablösten, sprach er von den Erfolgen seiner Regierung und seinen Plänen für die Vereinigten Staaten. Kein Wort über Impeachment, kein Wort über die bedrückende Wolke, die seit zwölf Monaten über Washington hängt, kein Wort über das Theaterstück, das das Parlament gibt, dafür jede Menge Programme und Progrämmchen, Reformen und Reförmchen – kein großer Wurf wie 1993 der Versuch einer großen Gesundheitsreform.

Clinton ist wie ein guter Schlagersänger, der weiß, welche Themen populär sind, und die Lage der Nation macht es ihm dieses Jahr leicht. Für die nächsten 20 Jahre werden Haushaltsüberschüsse vorausgesagt – es geht nicht mehr um die Verwaltung von Knappheit, sondern um den Einsatz von Überschüssen. Letztes Jahr kam schon gut an, daß er sie zur Rettung der Renten benutzen will, auch dieses Jahr stellte Clinton das alternde Amerika ins Zentrum seiner Rede.

Zwar schwimmt Amerikas Rentenkasse zur Zeit in Geld, ab dem Jahr 2013 aber, wenn Clintons Altersgenossen in Ruhestand gehen, muß sie mehr auszahlen, als sie einnehmen wird, und im Jahre 2030 ist sie pleite. Die demographische Wende macht Renten – auch in Europa – zum epochalen Problem, und Clinton tat das, was er immer schon gut konnte. Er stahl eine Idee der Republikaner. Nicht nur sollen 60 Prozent der Haushaltsüberschüsse in die Rentenkasse fließen, ein Teil davon soll im Aktienmarkt investiert werden, der höhere Renditen abwirft als Staatsanleihen. Und von einem Teil des Geldes sollen Sparkonten subventioniert werden, mit denen vor allem untere Einkommensempfänger Sparguthaben anlegen können, die ihre Renten aufbessern werden.

Und wieder bewährte sich Clinton als Lehrmeister der Nation. Im reichsten Land der Welt ist Ausbildung teuer und/oder schlecht. Viele Schulabgänger können ihre Abschlußzeugnisse nicht lesen, ihre Leistungen in Naturwissenschaften und Mathematik liegen unter denen von Schulabgängern in der Dritten Welt. Nun hat die US-Bundesregierung – nicht anders als die deutsche – in der Bildungspolitik eigentlich nichts zu sagen. Clinton aber hat es verstanden, sich zum effektiven Anwalt von Schulreformen zu machen und dadurch, daß er ständig über Bildung redet, die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Wo der Bund Mittel an Schulen vergibt, kann er Schulpolitik beeinflussen, und Clinton will diese Mittel noch erhöhen – vor allem für Renovierung und Neubau von Schulgebäuden. Mit diesem Hebel will Clinton nationale Leistungsstandards für Schüler und Lehrer durchsetzen und den Wettbewerb unter den Schulen fördern: „In den meisten Städten und Gemeinden Amerikas ist es leichter, sich über Angebot und Leistung von Restaurants als über die Qualität der Schulen zu informieren.“

Das ist Clintons Stärke, er ist detailbesessen und ist sich nicht zu schade, in die Niederungen der Alltagssorgen hinabzusteigen. Und auch das ist typisch für Clintons Regierungserklärungen: Die sogenannten politischen Beobachter, die Kommentatoren und Meinungsmacher, finden Clintons Reden regelmäßig uninspiriert – bei der Bevölkerung jedoch stoßen sie auf Zuspruch. Er gibt seinen Zuhörern das Gefühl, sich um Dinge zu kümmern, die sie betreffen.

Nur läßt auch Clinton dabei etliche Amerikaner aus. Die Regierungserklärung sprach nicht die Schlagseite des US-amerikanischen Booms an: Um auf den gleichen Reallohn zu kommen wie Anfang der 70er Jahre müssen US- Amerikaner heute durchschnittlich 160 Stunden im Jahr mehr arbeiten. Seit 1994 ist die Zahl der US-Amerikaner ohne Krankenversicherung um vier Millionen auf 43 Millionen gestiegen, 11 Millionen davon sind Kinder. Die USA haben heute die größte Kinderarmut in der Geschichte dieses Jahrhunderts.

Zur letzten Wahl gingen nur noch 36 Prozent der Wahlberechtigten – die größte Kluft zwischen Staat und Gesellschaft in der Geschichte des Landes. Ob Clinton diese Kluft überbrücken konnte, bleibt zweifelhaft.