Zerbrochene Welt

Viele Momente, kaum Bogen: Sandra Strunz' „Lucas, Ich und Mich“ auf Kampnagel  ■ Von Christiane Kühl

Da sitzen zwei auf dem Dach der Welt, und kein Sturm, so steht es in ihren Gesichtern geschrieben, kriegt sie da je runter. Aber ihre Gesichter sind jung und wissen nicht, daß es keinen Orkan braucht, um einen hinabzufegen; manchmal bricht einfach die Welt entzwei.

Ungarn 1944. In einer kleinen Stadt nahe der österreichischen Grenze lümmeln sich Lucas und Claus auf dem Dach eines Grenzpostens und demonstrieren, wofür ihre anagrammatischen Namen stehen: Die Zwillinge sind eins. Sie baumeln ihre Beine im Gleichtakt, sie sprechen synchron, sie lachen zur selben Zeit, sie teilen denselben Apfel und dasselbe perfekte Heim. Vor sich halten sie einen großen Ring wie einen Rahmen um ihre Köpfe, und immer wieder läßt die Regie ihre Bewegungen für Sekunden einfrieren. Prägen Sie sich dieses Bild ein, bedeutet das, so schön wird's nie wieder. Und schon sagt der Vater: „Ich liebe Antonia, sie erwartet ein Kind, es ist Krieg, ich habe keine Zeit zu verlieren.“ Und schon nimmt die Mutter die Pistole und schießt den Vater tot.

In drei Romanen erzählt die Ungarin Agota Kristof, die 1956 als 21jährige in die Schweiz emigrierte, die Geschichte der Zwillinge als Protokoll der Trennung, der Einsamkeit, der Identifikation und der Lebenslügen. 45 Jahre europäischer Geschichte werden aus wechselnder, selten zu ortender Perspektive verwoben mit der Sehnsucht nach Einheit und deren Scheitern. Claus und Lucas werden durch das Unglück auseinandergerissen. Einer bleibt in Ungarn, einer geht in den Westen, und als sie sich 1989 wiedersehen, kennen sie einander nicht mehr.

Das Unternehmen, die Romantrilogie in ihrer Komplexität in einen Theaterabend zu zwängen, ist zum Scheitern verurteilt. Auf der Bühne läßt sich nur eine Version erzählen. Darin liegt, wie stets, Beschränkung und Chance des Theaters. Die Regisseurin Sandra Strunz, die eine Vorliebe für dramatische Umsetzungen von Biographien hat, hat sich bei ihrem Projekt Lucas, Ich und Mich ein weiteres Mal für verspieltes Erzähltheater entschieden, das sowohl die Tatsache, daß es sich hier um Spiel statt um Realität handelt, als auch seine Methode, Geschehnisse mehr zu erzählen als darzustellen, offensiv zur Schau stellt. Dieser Wechsel von Spiel und Erzählung ermöglicht immense Zeitsprünge, Überlagerungen von Erzählebenen und geballte Vermittlung von Informationen. Daß dies nicht nur kunstvoll, sondern auch verwirrend und ermüdend sein kann, zeigte die Uraufführung des zweieinhalbstündigen Stücks am Mittwoch auf Kampnagel.

Wie bei einem Adventskalender öffnet die Inszenierung immer neue Fenster, die den Blick auf einzelne, disparate Momente freigeben. Dabei gelingen schöne Bilder. Oft jedoch verlieren sich die Regisseurin und das siebenköpfige Ensemble in ihrer Spiellust. Wenn Irene Eichenberger Großmutter ist, muß sie bucklig mit Fratze über die Bühne hinken, wenn einer „kleines Kind“ sagt, plärren vier Darsteller, geht es in den Hühnerstall, gackern alle. So entsteht ein ganz eigener Kosmos, aber um was es geht, geht dabei unter.

Die Stilisierung simplifiziert fast zwangsläufig: Muttermord dauert einen Dartwurf, die Okkupation vollzieht sich in Nebensätzen. Ist Kristofs Sprache knapp und unerbittlich, nutzt die Inszenierung jede Gelegenheit zum Gag, wobei dörflicher Sex und Paranoia auch hier ganz oben stehen. Das lockert auf, doch gehen die Fäden verloren. Annette Kurz hat ein schönes, multifunktionales Bühnenbild entworfen, Malte Preuß spielt atmosphärisch dichte Musik ein, die Darsteller sind überzeugend. Doch fehlt der zwingende Bogen. Ob es eine Geschichte um Liebe oder Tod, Europa, Verrat oder etwas ganz anderes ist – keine Ahnung. Der Schlußmoment, in dem die alten Brüder erstmals formulieren, was ihr Sein bestimmt hat – die Unerträglichkeit von Wahrheit –, lodert im Pathos, statt vor Fatalismus zu brennen.