Kein Russisch an der Bushaltestelle

Jeder zwölfte Marzahner kommt aus Rußland, Kasachstan, Kirgisien oder der Ukraine. Der Bezirk ist eines der größten Wohngebiete für Aussiedler. In den Schulen bemüht man sich um sie, doch außerhalb ihrer kleiner Inseln schlagen den Aussiedlern allenthalben Ressentiments entgegen  ■ Von Marina Mai

Anastasia, Katarina und Inga spielen „Mensch ärgere Dich nicht“. Die Neuntkläßlerinnen haben sich in eine Ecke im Clubraum der 1. Gesamtschule in Berlin- Marzahn zurückgezogen. Die ganze Schule ist für die Mädchen so etwas wie eine „Mensch ärgere Dich nicht“-Insel.

In ihrer früheren Schule wurde sie getreten, beschimpft und bespuckt, erinnert sich Anastasia, „hier ist das anders“. Aber schon, wenn sie auf dem Nachhauseweg wieder an der Bushaltestelle warten, scheuen sie sich, russisch zu sprechen: „Bloß nicht. Dann werden wir von den Leuten beschimpft.“ Anastasia, Katarina und Inga sind drei von knapp 13.000 Rußlanddeutschen in Berlin-Marzahn. Der Plattenbaubezirk im Osten der Hauptstadt ist in den vergangenen vier Jahren eines der größten Wohngebiete für Aussiedler aus Rußland, Kasachstan, Kirgisien und der Ukraine geworden.

Der vor 20 Jahren gegründete Bezirk Marzahn war bis 1989 Ansiedlungsplatz für das Hauptstadtpotential der DDR. Junge Familien, zumeist hochqualifiziert, bekamen hier Wohnungen. In den ersten Jahren nach der Wende blieb die günstige soziale Struktur erhalten. Doch seit drei Jahren etwa kommt Marzahn in Bewegung. Wer 1990 einen Bausparvertrag abgeschlossen hatte und gut verdient, kann nun sein eigenes Haus im Berliner Speckgürtel oder eine Wohnung in einem attraktiveren Bezirk beziehen. Für die neue ostdeutsche Wohlstandsschicht hat die Platte ihre Akzeptanz verloren.

Zwanzig Jahre nach der Gründung des Baby-Boom-Bezirks ist der Generationswechsel in vollem Gang. Die herangewachsenen Kinder suchen ihre erste eigene Wohnung lieber im Szenebezirk Prenzlauer Berg. Marzahn ist seit der Wende von 170.000 Einwohnern um ein Sechstel auf 143.000 geschrumpft. Der Bezirk versucht, gegen den Wegzug anzubauen. Seit 1990 investierte allein die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn mehr als eine Milliarde Mark in die Sanierung der Plattenbauten. Einige Häuser haben einen Portier erhalten, damit sich die Mieter trotz Verlust der angenehmen Sozialstruktur wieder sicher fühlen. Doch dieser Luxus schlägt auf die Betriebskosten, und höhere Mieten fördern eher den Umzugswunsch. Die Wohnungen stehen leer.

Für die Rußlanddeutschen hingegen sind die Hochhäuser der Inbegriff großstädtischen Lebens. Jeder 12. Marzahner ist nach Schätzungen der bezirklichen Migrantenbeauftragten Elena Marburg (SPD) ein Spätaussiedler. Die Akzeptanz der Rußlanddeutschen unter den Altmarzahnern sei ein Riesenproblem, meint Gemeindepfarrer Ernst-Gottfried Buntrock. Dem Bezirksamt will der Pfarrer, der auch den Marzahner Bündnisgrünen angehört, keine Vorwürfe machen. Hätte Elena Marburg das Problem nicht frühzeitig erkannt und eine Vereinslandschaft zur Integration der Aussiedler befördert, gäbe es noch größere Probleme, meint Buntrock. Die Existenz einer deutschen Minderheit in der Sowjetunion war in der DDR offiziell ignoriert worden. Auch Linke kommen oftmals in Erklärungsnot ob der Zuwanderung aus den GUS-Staaten.

1995 hatte sie die ersten Mädchen aus Kasachstan in ihrer Klasse, erinnert sich Heide Sieteng, Kunsterzieherin in der Gesamtschule. Damals hätte sie ihren SchülerInnen die Geschichte der Migration Deutscher nach Rußland erklärt, wie Stalin mit diesen Menschen umgegangen sei, daß die Großeltern und Eltern der neuen Schülerinnen nicht freiwillig nach Kasachstan gezogen seien. „Die Schülerinnen wurden angenommen, es gab nie Probleme in der Klasse.“ Heide Sieteng ist eine Ausnahme. Sie hätte sich immer tabulos mit der Geschichte auseinandergesetzt, sagt sie. Das Wissen aber hätte sie sich selbst aneignen müssen.

Jeder fünfte der 870 Schüler in der Gesamtschule ist Aussiedler. Dagegen nimmt sich die Zahl der Ausländer eher bescheiden aus: Ganze fünf Jugendliche haben keinen deutschen Paß. Schulleiter Rainer Böse hat sich auf die neuen Schüler eingestellt und spezielle Angebote für sie entwickelt. Ein wenig auch aus Sorge um die Arbeitsplätze der Kollegen: Denn Geburtenknick und Wegzug schlagen in Marzahn bereits im Oberschulbereich zu Buche. Zwölf Grundschulen und drei Oberschulen im Bezirk mußten bereits schließen.

Nun kann man an der Schule Russisch als erste Fremsprache erlernen und für den Englischunterricht in Intensivkursen den notwendigen Stoff nachholen. Das ziehe auch Schüler aus anderen Bezirken an. „Wer in der 9. Klasse nach Deutschland kommt und kein Wort Englisch spricht, dem ist der Weg zum Gymnasium versperrt“, kennt der Schulleiter die Erfahrungen seiner Schüler.

Dabei sind viele Aussiedler ihren Marzahner Alterskameraden in den naturwissenschaftlichen Fächern um Längen voraus, hat Böse festgestellt. Sie brächten bessere Vorkenntnisse aus den GUS-Staaten mit – nicht eben ein gutes Zeugnis für das deutsche Schulsystem. Aber auch in Kunst seien vor allem rußlanddeutsche Mädchen besonders begabt. Die Aussiedler seien zwar im gesamten Leistungsspektrum der Schule vertreten, aber häufiger im oberen Bereich. Ein einziger von ihnen habe bisher die Schule ohne Abschluß abbrechen müssen. Viele dagegen würden den Weg zum Abitur gehen. Das hohe Leistungsniveau führe, so Böse, gelegentlich zu Neid unter den in Marzahn geborenen Mitschülern.

In den Pausen seien die Aussiedler eher unter sich, meint die Neuntkläßlerin Anastasia: „Untereinander können wir selbstbewußter sein und uns gegenseitig ermuntern.“ Schulleiter Böse stellt aber ein gestiegenes Interesse der anderen Schüler an den Rußlanddeutschen fest. „Das Interesse, Russisch als zweite Fremdsprache zu erlernen, ist wieder gestiegen. Die Schüler wollen verstehen, worüber ihre neuen Mitschüler sprechen.“ Und auch die Kochkurse am Nachmittag – anfangs eine reine Domäne rußlanddeutscher Mädchen – erfreuen sich jetzt eines allgemeinen Interesses. Der Duft kasachischer und russischer Speisen lockt Interessierte an, die die fremden Gerichte auch mal ausprobieren wollen.

Probleme haben die jungen Aussiedler nicht allein mit den Ressentiments, die ihnen vor den Schultoren entgegenschlagen. Schulsozialarbeiterin Natalia Tibelius weiß von Konflikten in den Familien aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Prägung. „Viele Schüler schämen sich, daß ihre Eltern sich anders kleiden und verhalten, als es in Marzahn üblich ist.“ Die Eltern, die nahezu alle eine Berufsausbildung und oft auch einen Hochschulabschluß haben, erleben in Berlin einen sozialen Abstieg. Etwa vier Jahre würde es dauern, bis sie überhaupt einen Job bekämen, weist die Statistik der Sozialarbeiterin aus. Viele Berufsabschlüsse seien nicht anerkannt. Dann arbeiten die Mütter meist als Putzfrauen oder Zimmermädchen.

Auch bei Pubertätsproblemen und Berufswahl seien die in Rußland und Kasachstan aufgewachsenen Eltern oft keine kompetenten und verständnisvollen Ansprechpartner, meint Natalia Tibelius. Da suchen die Mädchen und Jungen Hilfe in der Schule. Natalia Tibelius ist selbst Aussiedlerin und hatte sich in einer Elterninitiative von Aussiedlereltern für bessere Berufschancen für ihre Kinder engagiert. Daraus ist ihre Stelle hervorgegangen. In ihrer Freizeit ist sie für die CDU als Bürgerdeputierte tätig und wird über die Parteigrenzen hinweg als kompetent geschätzt.

Die Erwachsenen suchen häufig Kontakte über die Kirchen. Die Hälfte seiner Gottesdienstbesucher sind inzwischen Aussiedler, meint Pfarrer Ernst-Gottfried Buntrock. Doch bei weitem nicht alle derjenigen, die in den GUS- Staaten evangelisch geprägt waren, fühlen sich in Berlin in der evangelischen Kirche wohl. Die ist vielen zu liberal: Frauen würden ohne Kopftuch und mit Hosen in die Kirche kommen. Auch Frauen als Pfarrerinnen werden von vielen abgelehnt. In Marzahn-Nord haben Aussiedler eine eigene Gemeinde gegründet.

Andernorts fühlen sie sich zu den Freikirchen hingezogen, zu den Siebentageadventisten, der Neuapostolischen Kirche oder den Zeugen Jehovas. Besonders letztere, so die Erfahrungen von Natalia Tibelius, seien extrem aufdringlich. „Eine Familie ist kaum drei Wochen hier, da klingeln die Seelenfänger schon an der Tür und verteilen ihre Wachturm-Broschüren – in russischer Sprache natürlich.“ Und oft erfolgreich.