Der neue alte Sündenbock

Der Antisemitismus hat in Rußland Tradition. Schon Dostojewski und Tolstoi schürten antijüdische Ressentiments. Stalin ließ die Juden systematisch verfolgen, und Breschnew machte den Antizionismus zur Staatsdoktrin. Ihre heutigen Erben von der KP heizen nun den Antisemitismus zu Wahlkampfzwecken an  ■ Von Klaus-Helge Donath

Michail Chodorkowski war ein hochbegabter Schüler, seine Leidenschaft galt der Chemie. Dreimal wechselte er die Schule, weil ihm das Unterrichtsniveau zu niedrig war. Auch das Studium meisterte er mit Bravour. Sein Abschluß fiel schon in die Ära des Reformers Michail Gorbatschow. Damals durften Spitzenstudenten wählen, in welches Unternehmen sie einsteigen wollten. Beste Arbeitsmöglichkeiten und hohe Löhne boten die staatlichen Rüstungsbetriebe. Chodorkowski wollte sich bei einer solchen Firma bewerben. Erfahrene Genossen rieten ab: Er dürfe „Punkt fünf“ nicht außer acht lassen. Sowjetische Pässe vermerkten darunter die ethnische Zugehörigkeit. Chodorkowski ist Jude.

Doch der Chemietechnologe machte seinen Weg und hat inzwischen viel erreicht. Als einer der Superreichen bewegt er sich im Kreis der legendären Oligarchen, die in den letzten Jahren auf die Politik des Kreml großen Einfluß ausübten. Die Rubelkrise im August riß mittlerweile die meisten Finanzbarone in den Strudel. Nicht so Chodorkowski.

Ist seine große Zeit dennoch abgelaufen? Leute wie ihn hat Viktor Iljuchin ins Visier genommen. Der Hardliner aus den Reihen der Kommunistischen Partei (KPRF) nutzte das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Jelzin, um die antijüdische Stimmung anzuheizen. Hätte der Kreml-Chef auch Vertreter der größten Volksgruppe um sich versammelt und nicht ausschließlich Leute „jüdischer Nationalität“, so Jurist Iljuchin, wäre das russische Volk dem „Genozid der Reformen“ entkommen.

Antisemitische Ressentiments gibt es seit langem in der KPRF, der größten Fraktion im Parlament. Offenkundig loten die Kommunisten aus, ob es aus taktischen Gründen im Wahljahr günstig ist, die Partei einem extremistischen Wählerspektrum zu öffnen.

Doch der eigentliche Skandal ist die Gleichgültigkeit der Verantwortlichen im Staatsapparat. Präsident Jelzin beauftragte zwar die Generalstaatsanwaltschaft mehrfach, Ermittlungen einzuleiten. Die Strafverfolgungsbehörden scheinen jedoch andere Prioritäten zu setzen. Sogar Rußlands Menschenrechtsbeauftragter Oleg Mironow schlüpft in der Frage des Antisemitismus eher in die Rolle eines sehr behutsamen Aufklärers: „Im Kampf gegen den Antisemitismus darf man nicht auf extreme Mittel verfallen.“

Der Zynismus ist grenzenlos. Alexander German, Filmregisseur russisch-jüdischer Herkunft, bezweifelt denn auch, daß den Lippenbekenntnissen jemals Taten folgen werden: „Was passiert, entspricht in seinem tiefsten Innern den Motiven staatlicher Politik“, so der Filmemacher. „Mein ganzes Leben lang habe ich latenten oder offenen Antisemitismus erfahren.“

Immerhin forderten Kreml und Justizministerium Kommunistenchef Gennadi Sjuganow auf, die Haltung seiner Partei zum Antisemitismus offenzulegen. Die Anwort erfolgte postwendend. Ein vier Seiten langes Dokument charakterisiert den „Zionismus“ als einen „Blutsverwandten des Faschismus“, mit einem Unterschied allerdings: „Wollte der Hitlernazismus hinter der Maske des deutschen Nationalismus die Welt offen unterjochen, treten die Zionisten mit der Maske eines jüdischen Nationalismus auf, agieren aber im Geheimen und bedienen sich fremder Hände.“ Kurzum, der Zionismus ist nach Ansicht der Kommunisten gefährlicher als der Nationalsozialismus.

Seither hüllen sich die Schriftgelehrten des Kreml in Schweigen. Die Kampfschrift ist nicht etwa Ausdruck einer neuen politischen Befindlichkeit. Die russischen Kommunisten blicken auf eine lange Geschichte des Antisemitismus zurück (siehe auch nebenstehende Spalte).

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich Stalin noch vehement für die Gründung des Staates Israel eingesetzt. Er spekulierte darauf, das Fundament der westlichen Kolonialregime untergraben zu können. Doch schon bald schwenkte er um, warf Israel vor, im Dienste des Imperialismus zu stehen, und schlug sich endgültig auf die arabische Seite. Für die sowjetischen Juden begann nunmehr die – nach den dreißiger Jahren – zweite große Säuberungswelle. Diesmal galt der Kampf dem „Kosmopolitismus“, jener Eigenschaft, die Lenin noch zu den „großen universal-fortschrittlichen Zügen in der jüdischen Kultur“ gezählt hatte.

Der Sowjetpatriotismus verkam endgültig zu einem spießigen Patriotismus des Großrussentums. Das jüdische Kulturleben wurde erstickt, die Intelligenz eliminiert, die jüdische Ärzteschaft massiv verfolgt. Mittlerweile erhärtet sich die These: Wäre Stalin nicht 1953 gestorben, hätte den sowjetischen Juden eine Massendeportation gedroht. Der georgische Diktator hätte damit nur Konsequenz bewiesen.

Alexander Jakowlew, einst Wegbegleiter Gorbatschows und Architekt des Aufbruchs der achtziger Jahre, heute Leiter der Kommission zur Rehabilitierung politisch Verfolgter, enthüllt in seiner jüngsten Studie ein schockierendes Detail: Im Gespräch mit dem deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop sicherte Stalin am Vorabend des Krieges Hitler zu, mit „der jüdischen Vorherrschaft Schluß zu machen“.

Im russischen Herrschaftsbereich hatte die Sowjetmacht bis dahin den Juden zum ersten Mal Gleichberechtigung gewährt und sie vor Pogromen geschützt. Das trug ihnen den Haß der traditionellen Antisemiten ein, die in ihnen Wegbereiter des Kommunismus sahen. Stalin zögerte nicht, diese Ressentiments noch zu schüren, um seine Macht nach innen zu festigen.

In der innenpolitischen Stoßrichtung liegt der Unterschied zur Breschnew-Zeit, die den Antizionismus einsetzte, um der UdSSR in der Weltpolitik mehr Geltung zu verschaffen. Dennoch suchte man auch unter Breschnew in höheren Positionen des Staats- und Parteiapparates vergeblich nach Bürgern jüdischer Herkunft.

Ideologisch bietet der Antizionismus zunächst keine Angriffsfläche. Er ist unverfänglich, weil er sich nicht offen gegen einzelne jüdische Bürger richtet, und er kommt zudem ganz ohne Juden aus. Anhänger der reinen Doktrin verwahren sich aufs schärfste gegen den Vorwurf eines tumben Antisemitismus. Unterschwellig setzt der Antizionismus nichtsdestoweniger auf Bilder und Assoziationen aus der Vergangenheit, in der die Diskriminierung von Juden zur russischen Staatsdoktrin gehörte. Selbst Zar Nikolaus II. suchte seine politische Führungsschwäche durch glühenden Antisemitismus wettzumachen.

Die „Protokolle der Weisen von Zion“, die die Modernisierungsängste der Jahrhundertwende in das Schreckgespenst einer heraufziehenden jüdischen Weltverschwörung ummünzten und aus der Schreibstube der zaristischen Geheimpolizei stammten, versah er mit dem Vermerk „bin derselben Meinung“. Selten kam der Staat Opfern der zahllosen Pogrome, die seit 1880 in Rußland wüteten, zu Hilfe. Der Zar verweigerte den Juden volle Bürgerrechte, nur einzelne erhielten die Erlaubnis, im russischen Kernland zu siedeln.

Durch die Annexion Polens im 18. Jahrhundert und die Einverleibung der Ukraine waren Juden überhaupt erst in den russischen Machtbereich gelangt. Nach der Revolution von 1905 konnte die militant antisemitische „Schwarze Hundert“, eine Mischung aus reaktionärer Bewegung des 19. Jahrhunderts und moderner faschistischer Massenpartei, auf offene Unterstützung seitens der Monarchie und der orthodoxen Kirche bauen. Die Juden galten schlechthin als Totengräber der alten Ordnung. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung zwar eine kleine Gruppe, saßen doch auffallend viele ihrer Intellektuellen in den Führungszirkeln der revolutionären Bewegung.

Programmatische Schriften der „Schwarzen Hundert“ gehörten zu den ersten, die nach der Lockerung der kommunistischen Zensur in den achtziger Jahren über Nacht auf fliegenden Büchertischen erhältlich waren. Das Feindbild der Antikommunisten deckte sich plötzlich mit dem der Nationalbolschewisten. Selbst Kommunisten und emigrierte Traditionalisten verständigten sich auf den gemeinsamen Sündenbock. Heute gibt es geradezu eine antijüdische Publikationsschwemme, die nicht einmal vor den Bücherständen der Staatsduma haltmacht, wo neben paraphrasierten Werken aus kommunistischer Feder auch einschlägige Machwerke feilgeboten werden.

Die Mehrheit der Bevölkerung sieht darin nichts Verwerfliches. Latenter Antisemitismus war ohnehin immer im Alltagsbewußtsein gegenwärtig. Doch steckt dahinter mehr als Vorurteile und Abneigung. Sie sind lediglich äußere Momente einer Gemütsverfassung, der es gar nicht in den Sinn kommen will, die Ursache von Problemen gelegentlich auch bei sich selbst zu suchen. „Wer ist schuld?“ zieht sich als die wohl wichtigste Frage durch die russische Geschichte. Unrechtsempfinden oder Scham kennt die Gesellschaft folglich nur rudimentär. Es mag paradox klingen: Das Zusammenleben in einem Vielvölkerstaat scheint auch die kleineren Ethnien gegenüber rassistischer Diskriminierung resistenter gemacht zu haben.

Man hat sich daran gewöhnt, die kleinen Spitzen zu überhören. So meldeten Regierungsstellen der multiethnischen Republik Dagestan zum Thema Antisemitismus: Man möge die Aufregung doch nicht übertreiben. Hätten die Kaukasier nicht viel triftigere Gründe, sich benachteiligt zu fühlen?

Solcher Mangel an Sensibilität beruht nicht zuletzt auf der russischen Kultur. Die Literatur des 19. Jahrhunderts machte den Antisemitismus in künstlerisch anspruchsvoller Form salonfähig. Können Lew Tolstoi, Puschkin, Leskow und Dostojewski irren? Letzterer konstruierte gar eine jüdische Idee, der er eine überlegene russische entgegenstellte.

Der Antisemitismus in der Bevölkerung ist laut Umfragen seit Jahren konstant geblieben. Rund sechzehn Prozent erweisen sich dafür als besonders empfänglich. Die Ablehnung im Staatsapparat, unter Beamten und in der alten sowjetischen Elite hat indes zugenommen. Das erklärt, warum die Behörden untätig bleiben und nur höchst widerwillig etwas unternehmen. Der Antisemitismus ist nicht Ergebnis einer bewußten, konzertierten Aktion. Die Elite verfährt, wie es russische Eliten vor ihr getan haben. In Krisenmomenten wird Antisemitismus als natürliches, mitunter willkommenes Regulativ und Sicherheitsventil geduldet.

Daher wehrt man sich bis heute, die systematischen Verbrechen an Juden während der Stalin-Zeit einzugestehen, wie es anderen Minderheiten gegenüber inzwischen immerhin geschehen ist. „Die Zeit der Rehabilitierung ist gekommen“, schreibt Leonid Mininberg in einer Arbeit über den immensen Beitrag sowjetischer Juden in Wissenschaft und Rüstungsindustrie des Zweiten Weltkriegs. Doch er stellt resigniert fest: „Offensichtlich sind Staat und Gesellschaft noch nicht bereit, den Antisemitismus juristisch, moralisch und faktisch zu verurteilen.“

Wenn auch nicht mehr in so krasser Form sehen sich die heutigen Juden dennoch einem alten Dilemma ausgesetzt, einer Art doppelter Diskriminierung. Der Rechte einer Minderheit beraubt, werden sie wie Russen behandelt. Sobald sie aber deren Rechte beanspruchen, erinnert man sie an ihr Judentum.

Klaus-Helge Donath, 41, ist seit 1990 Rußlandkorrespondent der taz