Blumfeld revisited

Nach dem Diskurs-Pop: Jochen Distelmeyer ißt kaum Käsebrot und singt ohne Scham schön von der Liebe  ■ Von Felix Bayer

Neulich in einer Hamburger Zeitschriftenredaktion: Um den gewöhnlich kaum beachtet das MTV-Programm zeigenden Fernseher hat sich eine kleine Traube Menschen gebildet. Denn MTV spielt das Video zu „Tausend Tränen tief“, der Single zu dem in dieser Woche erscheinenden dritten Album der Hamburger Band Blumfeld, Old Nobody. Und „Tausend Tränen tief“ wird als Sensation betrachtet: Eine Ballade, die musikalisch auch von George Michael stammen könnte. Und Jochen Distelmeyer singt über Liebe. Vor allen Dingen aber singt er! Wunderschön singt derselbe Jochen Distelmeyer, der auf den ersten beiden Alben von Blumfeld vor allem durch den energetischen Sprechgesang beeindruckte, mit dem er wortreich Politisches und Persönliches zu verbinden suchte. Im Video sitzt Distelmeyer auf der Rückbank eines Autos und bewegt seine Lippen zum Gesang. Dabei liegt ein seltsames Halblächeln auf seinem Gesicht, das gleichermaßen entrückt wie einschmeichelnd wirkt. Schnitt auf einen älteren Herrn im Anzug; und eine durch den Redaktionsraum laufende Grafikerin erkennt gleich: „Das ist ja Helmut Berger.“

Jochen Distelmeyer sitzt im Café Überseebrücke. Vor ihm steht ein Teller mit einem angebissenen Käsebrot. Es ist Interviewtag, da kommt man manchmal nicht zum Frühstücken. Erst recht nicht, wenn man wie Distelmeyer nahezu ununterbrochen und aufgedreht spricht. „Die Sachen, die ich vor Blumfeld für das Label Fast Weltweit gemacht habe, waren immer gesungen“, erzählt er, auf die neue Vorliebe zum Gesang angesprochen, „die Zäsur, die dann vor der ersten Blumfeld-Platte Ich-Maschine eingesetzt hatte, war die: Okay, singen kann ich. Ich kann sogar schlechte Texte so singen, daß sie was bedeuten. Aber ich muß mir mehr Mühe geben, am Text selber zu arbeiten. Weshalb es dann auf so Rap-Style-Sachen hinauslief.“ Jochen Distelmeyer spricht von einer Phase, die er durchlaufen habe, bei der ihm aber stets klar gewesen sei, daß er irgendwann zum Gesang, „zum Einfachen“, zurückkehren werde. Und außerdem: „Die HipHop-Text-artigen Sachen sehe ich übrigens bis jetzt, um mal so eitel zu sprechen, auch noch nicht eingeholt von deutschsprachigem Rap.“

Nun spielen Blumfeld also Popsongs. Und wer Jochen Distelmeyer bei den wenigen öffentlichen Auftritten in den vier Jahren, die zwischen Old Nobody und dem Vorgängeralbum L'Etat et Moi lagen, erlebt hat, hätte nicht so überrascht darüber zu sein brauchen. Ob er beim Benefiz für die Zeitschrift Radikal Popballaden von George Michael und der Human League nachspielte, oder als DJ im Pudelklub Songs von Prefab Sprout und Simply Red auflegte: Jochen Distelmeyer hat nicht verborgen, daß er Popfan ist. Gegenüber der SZ-Beilage Jetzt bekannte er sich nun sogar als Anhänger der Münchner Freiheit und als Verfechter dessen, was früher einmal „verantwortungs-voller Mainstream“ genannt wurde. Wobei es diesen Mainstream heute gar nicht mehr gebe, sondern auch Millionenseller stets auf der Suche nach Einflüssen aus den Subkulturen seien, die sie einbauen könnten.

So liegt die Frage nahe, ob Jochen Distelmeyer mit seiner neu formierten Band Blumfeld selbst zum Popstar wird. Aus dem, was Anfang der Neunziger als „Diskurs-Pop“ oder „Hamburger Schule“ bekannt wurde, hob sich Distelmeyer allein schon wegen seiner äußerst charismatischen Bühnenpräsenz hervor. Doch werden auch dogmatischere Indie-Anhänger den Weg zum Pop mitgehen? Die Sehnsucht nach der Melodie, die sich 1998 in der plötzlichen Beliebtheit von Eliott Smith oder Belle & Sebastian dokumentierte, spricht dafür. Und wird der gewöhnliche Radiohörer oder MTV-Gucker Blumfeld verfallen? Die Grafikerin glaubt es nicht. Als im gesprochenen Zwischenteil von „Tausend Tränen tief“ Distelmeyer im Video nicht mehr die Lippen bewegt, fragt sie halb im Scherz: „Und wer singt jetzt?“