Erfahrungen

Der Radfahrer Helmut L.  ■ Von Gabriele Goettle

Der Radfahrer ist ein Mann voller Renitenz und Feinfühligkeit. Er wurde von einigen Schicksalsschlägen allmählich an den Rand der Gesellschaft gespült. Dort entfaltet er, auf der kargen Grundlage einer Sozialfallexistenz, seinen ganz persönlichen Lebensstil als Einzelgänger; ohne Fernsehen, Zeitung, Telefon. Zu Unterhaltung, Nachricht und Kommunikation verhilft ihm ein einziges Gerät, sein Fahrrad. Es spielt die wichtigste Rolle im täglichen Leben des Radfahrers. Er ist der Lenker. Er ist der Herr der Himmelsrichtungen, bestimmt den Weg und das Ziel. Das Rad ist seine Stütze, sein leicht dahingleitendes Fluchtvehikel, jederzeit bereit zu Ausschweifungen. Es ist sein Beförderungsmittel und sein wohlgeordnetes Versteck beim Durchstreifen der Straßen. Er erkundet die Stadt, erforscht ihre östlichen Verästelungen, ist Jäger und Sammler, fotografiert mit einer gefundenen Kamera.

Gegen den Verkehrslärm und zur Entspannung hört er sich über den Kopfhörer eines Walkman Vivaldi und Mahlers „Lied von der Erde“ an. Sein bevorzugtes Tempo ist ein karawanenhaft ruhiges, gleichmäßiges, eines, das die Einteilung der Kräfte bis zum nächsten Wasserloch berücksichtigt. An manchen Tagen radelt er vierzig bis sechzig Kilometer, steuert zwischendurch Bedürfnisanstalten und Suppenküchen an, versorgt sich mit Lebensmitteln und Kaffee. Er kennt alle diesbezüglich tauglichen Einrichtungen, weiß ihre Öffnungszeiten und wo es Kleidung gibt, medizinische Versorgung, Kuchen. Aus diesen Quellen ernährt und kleidet er sich, legt Vorräte an, erhält Salben und Verbandszeug für die kranken Füße.

Die dabei unvermeidlich sich anbahnenden menschlichen Kontakte nimmt der Radfahrer grimmig in Kauf. Er gilt als verwilderter Verrückter, der in brüllendem Tonfall zusammenhanglos Neuigkeiten hervorstößt – und Geschichten von Eisbären und zu rettenden Prinzessinnen. Ihm wiederum sind die anderen zu verrückt, zu abgestumpft und träge, zu sehr an Klatsch und unflätigen Reden interessiert. Mit diesem Radfahrer waren wir eines schönen Sonntages in der Suppenküche des Franziskanerklosters in Pankow verabredet. Er wollte uns die Stätten seiner Kindheit und Jugend zeigen im naheliegenden Arbeiterbezirk Wedding. Darauf können wir stolz sein. Mehr als ein Jahr mußte vergehen bis zu diesem Vertrauensbeweis.

Das Kloster, das aus schmucklosen Altbauten besteht, die ebenso auch anderen Zwecken dienen könnten, wird von drei Schwestern und sechs Brüdern des Armutsordens betrieben. Sie leisten Seelsorge, pflegen Aidskranke und bieten den Armen Ausspeisung, Friseur, Kleiderkammer, Wannenbad und ärztliche Behandlung an. Die Suppenküche wurde 1991 eröffnet. Essenausgabe ist sommers wie winters aus Platzmangel im Freien. Der Bedarf ist groß. Auch an diesem Tag herrscht dichtes Gedränge. Mindestens 300 Arme stehen in einer langen Schlange um Essen an, vorwiegend Männer. Man unterhält sich. Wir schauen nach dem Radfahrer aus, gehen an der Schlange entlang, er ist aber nirgends zu sehen.

Anders als in den Westberliner Suppenküchen ist hier viel Sächsisch zu hören. Auch die Gesichter unterscheiden sich, sind altmodischer und wirken ein wenig verzweifelt. Die meisten der Besucher sehen aus wie biedere, nämlich ganz normale, in Armut geratene kleine Leute. Sie sind unbrauchbar gewordene Überbleibsel der DDR-Gesellschaft. Geduldig stehen sie in der altbekannten Schlangenformation auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes und stauen sich vor einer Nonne, Schwester Monika, zuständig für die Suppenküche. Sie krempelt die Ärmel ihrer braunen Kutte hoch, klatscht dreimal, um Ruhe bittend, in die Hände, spricht ein Tischgebet und wünscht gesegnete Mahlzeit.

Erst dann darf die hungrige Menge geordnet vorrücken unter das Dach eines Kunststoffpavillons. Hier wird aus großen Behältern der Eintopf ausgeschöpft. Jeder erhält einen recht großen Plastiknapf nebst DDR-Aluminiumlöffel, dazu Brot und Brötchen. Teekanister und Tassen stehen zur Selbstbedienung bereit. Wer noch Platz findet an den langen Tischen und Bänken im Hof, setzt sich. Die übrigen Esser stehen, angelehnt an die Bäume oder den Schuppen, balancieren ihre Näpfe und Brote. Die Tassen stehen auf dem Boden zu ihren Füßen.

Der Radfahrer drängt sich, mit einer Bratwurst winkend, durch die Menschenmenge. Er trägt seinen Lieblingshut aus dunkelgrünem Hasenfilz, an dessen Krempe er grüßend antippt, rückt sich die Brille zurecht, grinst verlegen und brüllt: „Ick mußte noch meine Radtasche ordnen unterwegs, dabei sind mir doch tatsächlich drei Eisbären begegnet und haben mich aufgehalten, mit irgendwelchen Geschichten von armen Prinzessinnen ... Heute hol' ich mir mal nur Kuchen – und mein Antriebsmittel habe ich schon bei mir: Kaffee, Marke Herztod!“ Er lacht schallend. Die Umstehenden schauen mißbilligend. Mit einem derben Schlag aufs Schulterblatt werden wir beschwichtigt: „Is' ja gar nicht so spät. Ich schlage vor, wir bleiben noch einen Moment, bis der Schuppen aufmacht. Ich geh' so lang nochmal zum Rad.“

Wir sehen die geplante biographisch-historische Rundfahrt schon bis auf weiteres ausfallen. Der Schuppen nämlich, wird erst zum Ende der Essenausgabe geöffnet. Dann gibt es, je nach Spendenlage, Lebensmittel zum Mitnehmen: Puddings, Joghurt, Ölsardinenbüchsen, Brotlaibe, manchmal sogar echten Seelachs, eingeschweißt und mit frisch überschrittenem Ablaufdatum – und natürlich Kuchen aller Art. Hier ist der Ort der angenehmen Überraschungen, die sich kaum einer entgehen lassen möchte. Schon gar nicht der Radfahrer, der nur aus Muskulatur und Sehnen besteht und jede Kalorie dringend benötigt. Das finden wohl auch die Verteiler, die wenig später dem Radfahrer noch dieses und jenes zusätzlich zustecken, so daß er hochzufrieden seine Fahrradtaschen füllt. „Det wäre auch erledigt. Habt ihr eure Räder bereit? Jetzt machen wir eine kleine Rundreise, und ich zeige euch, wo ich aufgewachsen bin, wo ich herkomme! Ihr glaubt vielleicht gar nicht, was in so 'nem kleinen Weg für Geschichten drinstecken, ihr werdet euch wundern!“

Wir rollen durch eine sonntäglich stille Gegend, entlang an alten Mietshäusern mit Balkonen und Erkern, mit Stuck und herrschaftlichen Eingängen. In der Wilhelm-Kuhr-Straße, die am Bürgerpark entlang führt, bremst der Radfahrer so abrupt, daß wir beinahe hinten aufgefahren wären und brüllt: „Da, in dem Haus, wurde 1903 ein weltberühmter Gegenstand erfunden. Ick habe ihn hier bei mir. Mein Vater hat ihn immer mit auf Arbeit genommen: Die wunderbare Thermoskanne!“ In stolzer Haltung fährt er weiter, unter einem italienischen Triumphbogen hindurch. Dahinter erstreckt sich ein schöner Landschaftspark mit alten Bäumen, schattigen Alleen, Springbrunnenanlagen, weiten Rasenflächen. Türkische Großfamilien und einsame Rentner gehen spazieren, Kinder tollen dahin.

„Das alles hier“, ruft der Radfahrer und macht eine kreisende Armbewegung, „gehörte mal einem einzigen Menschen, dem Begründer des Berliner Börsenblattes, aber das nur nebenbei! Wir überqueren jetzt gleich die Panke, ein Bach, der in meiner Kindheit eine große Rolle gespielt hat. Da drin hab' ich gebadet, wir haben Tiere gefangen, im Winter wurde Eishockey darauf gespielt – Ost gegen West.“ Wir überqueren ein nunmehr schmutziges, kanalisiertes Gewässer, zu dem er liebevoll hinabblickt. „Und ein Stücke rechts, da hinten, wo jetzt der Schönholzer Parkfriedhof ist, da war in der Nazizeit der Vergnügungspark ,Traumland', der soll riesig gewesen sein, ham sie mir erzählt, da wurde im Krieg dann ein Zwangsarbeitslager errichtet, is' das nicht toll? Und nach dem Krieg war dort ein „Friedhof der Namenlosen“, für die vielen Flüchtlinge und Fremden, die in Berlin gestorben sind.“

Hinter dem Ausgang des Parkes liegt eine seltsam kahle, neugestaltete, unwirtliche Grünanlage, die sich zwischen Häusern und S-Bahntrasse dahinzieht. „Hier“, erklärt der Radfahrer, „war der Todesstreifen. Geharkt und vermint, bis vorn zum Bahndamm hin. Das alles war Grenzanlage. Die Unterführung, durch die wir immer hin und her sind, die ham sie 61 zugemauert, alles dicht gemacht mit Stacheldraht. So, wir stehn jetzt quasi noch im Osten. Und dort drüben liegt der Wedding. Da war ich, grade mal zwanzig, und hatte 'ne Freundin hier drüben!“

Jenseits der Unterführung, die frisch mit gelben Ziegeln aufgemauert ist, liegt direkt am Bahndamm die Nordbahnstraße mit dem S-Bahnhof Wollankstraße. Der Radfahrer steigt ab, setzt an einer unscheinbaren Stelle vorsichtig seinen Fuß auf die Bordsteinkante und flüstert: „Paßt uff und kieckt! Genau hier war die Grenze. Auf 'ner Tafel stand: Achtung! Ende des französischen Sektors. Ein Schritt nur, und du warst im russischen Sektor. Der Eingang zum Bahnhof war nur für uns Westberliner zugänglich. Schräg hinter uns, im Keller von Haus Nummer drei, da haben sie damals übrigens den Fluchttunnel gegraben nach drüben.“ Der Radfahrer winkt uns weiter bis zur nächsten Querstraße und lehnt sein Rad an ein stuckverziertes Eckhaus. Seinem dramatisch harten Gesichtsausdruck ist anzusehen, daß jetzt gleich etwas kommt, das ihn weich werden läßt.

Er deutet auf das schlichte graue Nebenhaus: „Hinterhaus, erster Stock war's! Mutter arbeitete als Portiersfrau, machte sauber, alles. Trümmerfrau war sie auch noch, ist hamstern gefahren, hat Zeitungen ausgetragen, nur um uns durchzubringen, meine zwei Brüder und mich. Dort drüben“, er hat Tränen in den Augen, „habe ich immer Milch geholt, da war ein richtiger kleiner Kuhstall, mitten im Wohnhaus. Aber die Milch, die wurde genau eingeteilt. Ich hatte immer Hunger, immer. Einmal, ich muß so vier gewesen sein, es war vor dem Bunker im Humboldthain. Die Russen wollten das große Lebensmittellager öffnen. Die halbe Stadt hatte davon gehört, deshalb stand da eine riesige, hungrige Menschenmenge und wartete. Meine Mutter hielt mich an der Hand, wir standen ziemlich weit hinten. Ich hatte furchtbaren Kohldampf, wie alle ...“

Er zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief den Rauch ein, „ich weinte sogar. Da stand ein riesiger Rotarmist mit seiner Kalaschnikow ganz nah, zur Bewachung. Der sah mich und zog plötzlich aus seinem Uniformmantel einen Kanten Brot hervor ... Und hat's mir gegeben, mir! – Und deshalb ist für mich ein Rotarmist etwas überirdisch Herrliches. Herrlicher noch als später die Amis, mit ihren Rosinenbombern. 1948 übrigens haben die Franzosen vergeblich versucht, den Humboldthainbunker zu sprengen, der war fünf Stockwerke hoch und hundert Meter lang, zwei Meter dicke Wände – die Trümmerfrauen haben ihn dann mit Schutt und Erde bedeckt. Das mußten ja alles die Frauen machen, weil die Männer noch weg waren oder schon tot.

1949 erst kam Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Ich habe ihn gar nicht gekannt. Er war Zimmerer und Kommunist. Ein Thälmannverehrer war er, davon erzähle ich euch vielleicht später, jedenfalls haben sie am 17. Juni 53 seinen Thälmanntraum zusammengeschossen, für immer, die Genossen. Er war dann nur noch ein Arbeiter ohne Aussichten. Ich wurde auch Arbeiter: Ein Werkzeugmacher aber, mit Abendstudium und allem. Ich saß oben in der Küche bei uns morgens, hörte, wie die S-Bahn in Schönholz losfuhr, schnappte meine Stulle, hatte gerade noch Zeit, Treppe runter, Treppe rauf und rein in die S-Bahn nach Neukölln, zu Kindl-Pils. In der Handwerksbude von denen war ich Lehrling. Später hab' ich auch bei der AEG gearbeitet – dort, wo heute noch das ,Beamtentor' steht, wo jetzt Nixdorf-Computer drin ist – und bei Osram habe ich auch gearbeitet. Damals, als meine Ehe gescheitert ist, zog ich wieder hierher zurück zu den Eltern und fuhr auf einem Schubschiff zwischen Berlin und Westdeutschland hin und her.“

Er singt lautstark, aber rein: „Ick hab' 'ne Paranoia und versaufe meine Heuer ... Trallala ... 1986 war ein Unglücksjahr. Ick habe meinen Daumen mit der Kreissäge abgeschnitten – und beide Eltern sind gestorben. Meine Eltern kannten sich schon als Kinder, haben zusammen gespielt, in derselben Straße gewohnt. Und sie sind einander hinterhergestorben, in kurzem Abstand. Dann hat man mich rausgesetzt hier. Ach wat, gehn wir, ich werde mit 'nem Mal ganz traurig. Ich zeige euch Harry's Eisdiele, 'ne kleine Familienkneipe, in der ich früher immer war.“

„Und zwar machen wir es so“, erklärt Helmut, sein Rad besteigend. „wir fahren so ein Stücke vor, dann kommt die Panke und an der fahren wir immerzu entlang durch Grünanlagen. Da ist kein Verkehr, und ich kann euch alles zeigen.“ Er fährt langsam voran. Hier sind die Häuser, im Gegensatz zum benachbarten Pankow, deutlich schlichter gebaut, dafür sind drüben die ehemaligen Häuser des Bürgertums inzwischen wesentlich baufälliger. Auch die Grünanlage entlang der Panke ist armselig, schmal und ein wenig vermüllt. Jogger sind unterwegs und junge Mutter mit Kinderwagen. Der Radfahrer hält an und nestelt eine Thermoskanne aus seiner Satteltasche, schenkt sich ein und deutet mit dem vollen Becher:

Auf dem Friedhof da drüben liegt der Vater von Harald Juhnke. Die sind auch alle von hier. Und dort, in dieser Kirche, da ist Klein- Helmut eingesegnet worden. Das war für mich ein großer Moment, richtig mit Anzug und ganz feierlich. Später habe ich diese Kirche als Modell nachgebaut, in zwei Varianten, in verschiedenem Maßstab, und zwar indem ich sie vorher von verschiedenen Seiten möglichst genau abgezeichnet habe. Und meine Orientierungshilfe, mein Maßstab, das waren die Steinplatten vom Bürgersteig, mit einer Diagonale von 50 Zentimetern. So beeindruckt war ich von der Einsegnung. Und von der Schule war ich auch begeistert, die is' hier auf dieser Seite, dort hinten, die Zechliner Schule. Da bin ich gerne hingegangen, schon wegen der Schülerausspeisung – nicht nur, aber auch. Da gab's beispielsweise Nestlé Kakaopulver, mit Milch und Zucker drin.“ Helmut trinkt mit geschlossenen Augen aus seinem Kaffeebecher und scheint in der Erinnerung zu schwelgen, plötzlich fügt er brüllend hinzu: „Und Spaghetti mit Tomatensoße gab es – ich weiß nicht, wie oft ich unsere Milchkanne nach Hause geschleppt habe und die war voll, voll mit Spaghetti und Tomatensoße, bis oben hin!“

Die Familienkneipe ist gleich um die Ecke. Wir sollen sie uns alleine ansehen, wünscht der Radfahrer, er möchte derweil an der Brücke auf uns warten. „Harry's Eisdiele“ steht über der Tür, durch die man in ein winziges dunkles Lokal eintritt. Platz ist gerade mal für den Tresen und ein paar Tischchen. Drei ältere Biertrinker unterhalten sich mit der Wirtin – der Beschreibung des Radfahrers nach ist sie Harrys Mutter. Sie steht aufrecht hinter dem Tresen, eine graugelockte alte Frau in weißer Bluse und himmelblauer Kittelschürze. Streng blickt sie durch ihre starken Brillengläser auf die fremden Gäste. Wir fühlen uns, als seien wir ins Wohnzimmer von Unbekannten eingedrungen und bestellen zwei Kaffee. Die Gespräche verstummen, zu hören ist nur noch das Hantieren an der Kaffeemaschine. Erst, als wir unseren Kaffee serviert bekommen und den ersten Schluck trinken, erlischt das Interesse an uns, wird weitergeplaudert, über Fußball und die Probleme mit der Hausverwaltung.

Hinter dem Tresen steht in Regalen ordentlich aufgereiht all das, was Männer gern trinken und Kinder gern naschen. Grellbunte Süßigkeiten, Lakritzschnecken, Bonbons, Brausetüten, Lutscher und Fruchtgummi sind in alten Gurkengläsern untergebracht und werden flankiert von Schnaps- und Cognacflaschen, Weinen und Likören. Auch Urkunden, Bierkrüge und Andenken zieren Wand und Regale. Eine leicht schimmernde Blumentapete reflektiert das Licht, der moderne Spielautomat lockt ab und zu mit Kaskaden von buntem Geblinke. Das Speiseeis ruht in einer gewaltigen Truhe mit metallenen Schiebedeckeln. Hier also hat der junge Helmut immer Halt gemacht, wenn er zum Schäfersee wollte.

Der Radfahrer erwartet uns rauchend an der Brücke, und weiter geht es, hinunter und an der Panke entlang, diesmal auf der anderen Seite. „Hier“, ruft Helmut und zeigt auf die Hinterfront eines alten Wohnhauses, „habe ich mal einem alten Mann geholfen. Er war gerade dabei, seine Kohlen auf den Balkon zu wuchten. Ich habe mit angepackt, und später hat er mich in seine Wohnung eingeladen, zum Dank. Und die ganze Wohnung war voll mit Musikinstrumenten, wie ein Museum. Er hatte Oboe studiert und alle möglichen Instrumente gesammelt, auch von Indianern, Negern und Chinesen. Dort drüben, übrigens, das alte Fabrikgebäude, das war mal die Hofkunstschlosserei, und die größte Geldschrankfabrik in ganz Deutschland. Jetzt sind da Bildhauerwerkstätten drin, glaube ich. So, und jetzt überqueren wir die Osloer Straße, fahren dann wieder die Panke entlang bis zum Luisenbad, über die Badstraße weg, weiter zur Wiesenstraße. Dort werde ich euch lauter interessante Sachen zeigen. Nebenbei bemerkt, in dieser Richtung, wenn wir da immer rechts runterfahren würden, da liegt das jüdische Krankenhaus. In dem ist mein Vater gestorben und meine Mutter – meinen Daumen, den habe ich auch dort gelassen.“

Der Radfahrer nimmt den Hut ab, fächelt sich Luft zu, und dann setzen wir unsere Fahrt an der schmutziggrauen Panke entlang fort, bis Helmut vor einer Reihe von Neubaublocks aus den 50er Jahren vom Sattel rutscht und stumm auf eine unbestimmte Stelle deutet. Dann ruft er: „Also hier, hier genau muß es gewesen sein, da stand die Nummer 6. In dem Haus, das da mal stand, habe ich das Licht der Welt erblickt, am Ostersonntag, im Jahre 1941. Und dann, als ich fast vier war, fiel ein schwerer Gegenstand auf dieses Haus, danach war es weg, nicht mehr zu finden. Uns ist nichts passiert, wir saßen im großen Luftschutzkeller. Daraufhin mußte meine Mutter ohne Habe und ganz alleine – mein Vater war ja im Krieg – eine neue Wohnung suchen. Und das mit drei Kindern – zwei Söhne und ich. Im Jahr 1945 sind wir achtmal umgezogen. Da standen ja viele Wohnungen leer – was heißt leer, im Freien standen die, man konnte vom Bett aus durch ein Loch ins untere Stockwerk schauen und durch die aufgerissene Wand ins Klo nebenan. Aber hier habe ich meine ersten Schritte gemacht und meine ersten Worte gesprochen. Das ist für mich hier ein historischer Boden, nee, nicht nur wegen mir – hier um die Ecke war das Parteilokal der KPD, und die Barrikadenkämpfe war'n da auch.“

Gleich um die Ecke, zwischen Pank-, Reinickendorfer- und Wiesenstraße, liegt die Kösliner Straße. Eine kurze, nichtssagende Straße. Hier zeigt sich die graffitibesprühte Vorderansicht der Neubauten, die wir grade von der Panke aus gesehen hatten. Keine Gedenktafel und nichts weist auf die Vergangenheit hin. Der Radfahrer steigt ab, trinkt etwas Kaffee und zündet sich eine Zigarette an. Nach einem langen Zug erzählt er, was ihm die Eltern früher erzählt haben. „Also, ihr steht hier in der einstmals berühmtesten Straße des Roten Wedding. Hier wohnten Tausende von Leuten, auf engstem Raum, fünf Stockwerke hoch in Mietskasernen. Vier Hinterhöfe, Seitenflügel, Klos auf halber Treppe für vier Parteien. So haben wir auch noch gewohnt, bis die Bombe fiel. Und mitten drin war die KPV-Zentrale, das ,Sängerheim' genannt. Da gab's Arbeiterweiterbildung, Bücherei, Billard, Zeitungen, Musike und Ausstellungen von Zille und Käthe Kollwitz. Da war was los. Das war die röteste Straße in ganz Berlin, deshalb habe ick auch heute dieses rote Halstuch an.“

Er zieht ein rotes Tuch aus seinem Jackenkragen und schwenkt es durch die Luft. „Am 1. Mai 1929 gab's hier Barrikadenkämpfe zwischen der Polizei und den Arbeitern. Es wurde scharf geschossen, und es gab Tote unter den Arbeitern. Der Polizeipräsident, der da hatte schießen lassen, war Sozialdemokrat! Die Kösliner Straße wurde weltberühmt, alle kamen hierher, um sie zu sehen, waren im ,Sängerheim', auch Thälmann war da, mehrmals sogar. Mein Vater war ja, wie ich schon gesagt habe, ein Thälmannverehrer und Kommunist. Mit elf Jahren hatte er in einer riesigen Menschenmenge vor dem Schloß gestanden, wo Karl Liebknecht die sozialistische Republik ausgerufen hat. Das war 1918, und das hat mein Vater nie vergessen können. Und viel, viel später, mein Vater war als Zimmermann in Ostberlin beim Bau der Stalin-Allee dabei – das war damals die größte Baustelle in ganz Berlin – da traten die Bauarbeiter dort in den Streik und zogen gemeinsam zum Ministerrat.

Aber Walter Ulbricht hat sie nicht empfangen. Und der Aufstand, der dann kam, das war zuerst ein Bauarbeiteraufstand, gegen die Erhöhung der Arbeitsnorm und gegen die schlechte Behandlung durch die eigenen Genossen. Und die russischen Brüder haben Panzer auffahren lassen, so hatte es der Stadtkommandant angeordnet. Am gleichen Tag war der Aufstand niedergeschlagen, und die Teilnehmer wurden zu Verrätern erklärt. Und da ist mein Vater aus Protest ausgetreten, er hat sein Parteibuch den Genossen hingeschmissen und bis zu seinem Tod geschimpft über die Unmenschlichkeit der Partei. Na, genug von dem politischen Kram. Ick zeige euch jetzt noch was andres, weil ihr euch ja interessiert für die Armen und Obdachlosen, eine Ruine, ganz in der Nähe, in der Wiesenstraße.

Die Ruine liegt auf dem Grundstück Nr. 55, etwas abseits der Straße. Eine Zufahrt mit altem Kopfsteinpflaster führt an einer Ziegelmauer entlang zu einem fabrikartigen Ensemble roter Backsteingebäude. Teilweise fehlen die Dächer. Im Innern der verfallenden oder bereits zerfallenen Gebäude wachsen Birken; Schornsteine ragen in den blauen Himmel. Eines der Häuser, dreistöckig und mit klassizistischen Stuckverzierungen an den Fenstern, sieht aus wie das ehemalige Verwaltungsgebäude und ist bewohnt. Auskunft gibt eine Gedenktafel: „Der 1868 von Berliner Bürgern gegründete BERLINER ASYLVEREIN FÜR OBDACHLOSE eröffnete 1896 an dieser Stelle ein Asyl für 700 Männer.

Das Asyl wurde 1907 um 400 Schlafplätze für Frauen erweitert. Der Volksmund nannte das Asyl „DIE WIESENBURG“. Im überaus gepflegten Vorgärtchen bellt ein angebundener Schäferhund. Das Herrchen tritt mißtrauisch näher und fragt: „Sind Sie vom Film?“ Wir verneinen und sagen, wir seien nur von der Zeitung. Nach einem zweifelnden Blick beschließt er, uns ein paar Auskünfte zu geben: „Wir ham hier ja nix mit zu tun, wir sind alle ganz normale Mieter im Haus. Es kommen laufend welche vom Film und drehen hier, es is' ja 'ne interessante Kulisse ... ,Blechtrommel', wenn Se den kennen, die haben auch hier gefilmt. An sich isses ja schade drum, daß alles zusammenfällt, vielleicht können wir's bald wieder mal gebrauchen, so wie's aussieht, mit unseren Arbeitslosenzahlen. Det war hier mal das modernste Nachtasyl im Lande, mit Bädern, Großküche, Desinfektion, Frisöre und allet. Strom haben sie mit einer großen Dampfmaschine selbst gemacht, da kamen so tausend Leute am Tage in schlechten Zeiten. Gehn Se ruhig mal gucken. Hinten runter zum Pankeufer können Sie gehen, da waren die Wäschereien und die Heizanlagen, viel sehn Se nicht mehr.“

Wir streifen um diese ehemalige Fabrikationsanlage bürgerlicher Wohltätigkeit, bestaunen die Schönheit der Muster und Vorsprünge an den Hauswänden, blicken hinunter in die Panke, die hier durch ein leicht geschwungenes, ziegelrot gemauertes Kanalbett fließt, und finden hinter dem bewohnten Haus einen romantisch verwilderten Innenhof, in dem ein Schild mit der Aufschrift „Aborte“ hängt.

„Und nu“, ruft der Radfahrer, „verlassen wir die Panke und wenden uns nach Nordwesten, da zeige ich euch noch diese große Fabrik von Osram, wo ich gearbeitet habe. Und den Schillerpark, wenn ihr noch Lust habt.“ Wir fahren durch ruhige Seitenstraßen, viele der alten Mietshäuser sind renoviert. Türkische und auch einige afrikanische Familien flanieren regelrecht mit ihren Kindern in den noch in der Sonne liegenden Straßen und kleinen Grünanlagen. Hier gibt es erstaunlich viele Geschäfte für gebrauchte Elektrogeräte, Möbel, Kleidung. Änderungsschneidereien bieten ihre Dienste an, Getränkeshops und Imbißstuben. Das soziale Leben scheint trotz aller Bescheidenheit recht lebhaft zu sein.

Der Radfahrer winkt uns an seine Seite: „Das vor uns ist die Schulstraße, und da drüben, wo jetzt die Seniorenfreizeitstätte ist, da war früher die Passierscheinstelle drin. Wenn ich nach Ostberlin wollte, dann mußte ich immer hin und den Passierschein beantragen, sonst kam man ja nicht über die Grenze. Heute erinnert daran nur mehr die Kneipe dort, die heißt immer noch ,Passierscheineck'. Bald wird keiner mehr wissen, warum die so heißt. So, und jetzt müssen wir hier rüber und noch ein Stück weiter, bis zur Liebenwalder, dann sind wir da.“ Die Osram- Glühlampenfabrik ist ein großer Gebäudekomplex aus gelbem Backstein, der sich mit vielen Eingängen und Einfahrten als Karree bis zu den nächsten Querstraßen erstreckt. Es wurde so etwa um die Zeit des Ersten Weltkrieges herum fertiggestellt und wirkt immer noch imposant. Heute sind hier verschiedene kleine Firmen untergekommen und ein Supermarkt von Aldi.

Der Radfahrer raucht, blickt sinnend und brüllt plötzlich anklagend: „Da, wo jetzt Aldi ist, war ein Tor. Da bin ich immer reingegangen als junger Spund. Hab' in der Maschinenwartung gearbeitet – mal auch in der Produktion. Und die hatten dann ja damals, aus Angst vor den Russen, hier in Berlin ziemlich abgebaut – genauso wie die AEG. Trotzdem, zu meiner Zeit, da lief noch 'ne ganze Menge über die Bänder. Was mir grade einfällt, ich hatte damals 'nen Arbeitskollegen, der wohnte gleich da drüben. In der Frühstücks- und Mittagspause ist er immer nach Hause gegangen auf einen Sprung. Seine Frau und er hatten ein kleines hormonales Problem zu lösen – ums mal vornehm auszudrücken.

Der wurde von allen beneidet. Ach, wißt ihr“, ruft der Radfahrer und schnippt seine Kippe zwischen zwei Autos in den Rinnstein, „fast fünfzig Jahre meines Lebens habe ich im Wedding zugebracht, hier in dem Viertel hab' ich auch gewohnt. Hier bin ich eingeschult worden, hier hab' ich später mit meiner Frau gewohnt und meinen zwei Kindern, bis die Ehe kaputt ging. Und mein Sohn mit seiner Frau wohnt heute immer noch hier. Die seh' ich aber beide nicht, nicht meinen Sohn und auch nicht meine Tochter, weil sie böse auf mich sind – aber das ist ein anderes Thema. Jetzt fahren wir hier weiter, über die Seestraße zum Schillerpark, wo ich als kleiner Junge gespielt habe.“

Der Schillerpark ist ein Landschaftspark mit großen Grün- und Spielflächen, einem Sportplatz von gewaltigem Umfang, einem Schillerdenkmal und einer ritterburgartig gemauerten Ruinenanlage. Es wimmelt nur so von Menschen, die mit diversen Ballspielen beschäftigt sind, mit dem Ausführen ihrer Hunde – hier sind es überproportional viele Kampfhunde – oder einfach nur mit dem Herumspazieren auf den Wegen. Obgleich eine große Hinweistafel am Eingang sowohl das frei Herumlaufenlassen von Hunden verbietet als auch das Radfahren, flitzen überall Hunde und Radfahrer hin und her. Jogger drehen ihre Runden.

Die älteren türkischen Männer gehen miteinander plaudernd und ihre Perlenkettchen drehend ein paar Schritte vor ihren ebenfalls plaudernden Frauen dahin. Der Radfahrer lehnt sein Rad an einen Baumstamm, gießt den Rest seines Kaffees in den Becher und prostet Richtung Ritterburg und Schillerdenkmal.

„Für mich als Kind war dieser Park riesig groß und richtig aufregend. Wenn wir mit unserem Vater hier waren, dann hat er immer wieder davon angefangen ... Mein Vater hat nämlich im Alter von zwanzig Jahren, am Pfingstsonntag 1927, hier zwischen 100.000 Rotfrontkämpfern auf der Wiese gestanden beim Pfingsttreffen der KPD. 100.000 Menschen! Die waren vorher durch halb Berlin marschiert, und da kamen die Leute sogar aus ihren Häusern auf die Straße runter und haben Stullen und Getränke verteilt, sind mitgezogen. Mein Vater mittenmang, und Musik und rote Fahnen. Die Schlußkundgebung war dann hier im Schillerpark, und nun ratet mal, wer da gesprochen hat? Thälmann! Er hat vor zwei großen Gefahren gewarnt, vor dem Krieg und dem Faschismus. Und der Faschismus ist gekommen, der Krieg ist gekommen. Aber vor der dritten Gefahr hat keiner gewarnt, vor dem Verrat der Ideale durch die eigenen Genossen. Sie haben meinem Vater seinen Thälmanntraum gründlich ausgetrieben. Darüber is' er nie hinweggekommen.

Und ich? Ich hatte auch meine Ideale. Ich habe hier, noch als ganz kleiner Steppke, die Prinzessin befreit – aus der Raubritterburg dort oben. Dazu stehe ick heute noch!“