„Die Geburt ist ein Orkan“

Die Soziologin Isabelle Azoulay räumt in ihrem Buch „Die Gewalt des Gebärens“ mit den liebgewonnenen Vorstellungen vom Segen der Schmerzen bei und dem Glück der Mutterschaft nach der Geburt auf und ruft zur Rebellion auf  ■ Von Michaela Eck

Das Buch erinnert an die dunkle und animalische Seite des Gebärens: an Blut, Urin und Kot, an stunden-, manchmal tagelange unkontrollierbare Schmerzen. An einen Ausnahmezustand, der kurzzeitig die Anbindung an die Gemeinschaft zerstört. Die 37jährige Soziologin Isabelle Azoulay hat eine „Streitschrift wider den Mythos der glücklichen Geburt“ verfaßt.

Dennoch ist es keine Schrift wider das Gebären. Im Gegenteil. Die glücklichen Momente des Ereignisses will sie keineswegs in Frage stellen. Sie will jedoch den Mythos entlarven, der das Brutale des Ereignisses ausblendet.

Dem Ereignis Geburt nähert sie sich von verschiedenen Seiten. Und stellt eines fest: Von der Sozialgeschichte des „Mutterinstinktes“ bis hin zum christlichen Madonnenkult haben diese Ideologien im Westen eines gemeinsam: Die Mutter ist gut, Negatives oder gar Böses geht nicht von ihr aus. Besonders ideologisch aber wird es bei dem Ereignis selbst – der Geburt –, meint Azoulay. Ob Ärzte und Ärztinnen, Hebammen, Mütter oder Ratgeber, von allen Seiten wird geschönt, verniedlicht, relativiert und abgeschwächt.

Azoulay ruft zur Rebellion auf: Warum müßten Frauen im Zeitalter des medizinischen Fortschritts, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, unter solchen Schmerzen gebären? Bis auf wenige Ausnahmen hielten die ÄrztInnen immer noch an den konventionellen Verfahrensweisen fest, die am liebsten gar keine Schmerzmittel vorsähen. Der Schmerz werde der gebärenden Frau als das große Erlebnis verkauft, ohne das die Mutterschaft quasi nichts wert sei. Azoulay nennt das Wahnsinn und Sadismus und plädiert dafür, daß die Frau Anspruch auf Schmerzfreiheit habe, damit sie auch beim Gebären ihre Würde bewahre.

Hier wird Azoulay absolut und nimmt nicht wahr, daß viele Frauen gar keine Schmerzmittel wollen. Es ist auch ein Problem der Anästhesie. Nur mit Vollnarkose oder Peridualanästhesie (PDA) ist Schmerzfreiheit garantiert. Doch mit Vollnarkose kann frau nicht gebären, das Kind muß mit Kaiserschnitt entbunden werden. Welche Frau aber entbindet ohne Not mit Kaiserschnitt? Mit der PDA wird der Wehenschmerz ausgeblendet, und die Frau kann tatsächlich schmerzfrei gebären.

Ganz ohne Nebenwirkungen ist dies allerdings nicht zu haben. So kann es bei der einen oder anderen Frau vorkommen, daß sie vom Becken abwärts fast nichts mehr spürt – auch ihre Beine nicht – und das Kind dann, in dem einen oder anderen Fall, mit Saugglocke oder Zange „befreit“ werden muß. Was ja auch nicht besonders schön ist.

Meist aber verlangen die Frauen erst im letzten Drittel der Geburt oder in den letzten brutalen Minuten, während der Preßwehen, nach einer PDA. Dies wird ihnen mit der Begründung verweigert, es sei jetzt zu spät, das Kind sei gleich da, die PDA bringe jetzt nichts mehr. Ist es letztendlich nicht doch eine individuelle Entscheidung, was frau aushalten kann und was nicht?

Doch womit Azoulay sicherlich recht hat – und das ist das Neue dieser Schrift –, ist, daß die Frau auf die Geburt als brutales Ereignis überhaupt nicht vorbereitet wird. „Es gilt den Frauen eindringlich mitzuteilen, daß es sich bei der Geburt nicht um ein glückliches Ereignis, sondern um den extremsten Ausnahmezustand handelt, dem ein Mensch ausgesetzt sein kann“, schreibt Azoulay. Die normale Entbindung sei so „barbarisch“ wie kein anderer Vorgang in unserer Zeit. Aber nicht nur Schwangerschaft und Geburt, sondern auch das Danach werde glorifiziert. Gerade von Hebammen und Müttern, die es doch eigentlich besser wissen müßten: Wie seelig nuckelt der Säugling in seinem Bettchen. Wie gemütlich und aufgeräumt ist es in der Familie. Alles schön und gut. Nur – im wirklichen Leben sieht es meist ganz anders aus.

Azoulay hat zahlreiche intensive Gespräche mit Frauen, Hebammen und ÄrztInnen über den Verlauf der Geburt und die psychischen Begleiterscheinungen geführt. Erstaunlich frei hätten die Frauen über Wunden, Verletzungen gesprochen, die das Ereignis hinterlassen habe. Häufig habe sie auch festgestellt, daß jetzt, wo die Kinder zwei oder drei Jahre alt seien, diese Wunden noch immer nicht verheilt seien. Denn gerade Sexualität werde nicht nur direkt nach der Geburt eines Kindes, sondern oft auch Jahre später noch als problematisch erlebt. Die ersten drei Jahre danach seien für ein Paar von zahlreichen Störfaktoren umlagert. So könne es vorkommen, daß Eltern wochen-, oder gar monatelang nächtens nicht mehr alleine seien. Der Alltag, die Gespräche drehen sich oft nur noch ums Kind, um Windeln, Stuhlgang, Erkältungen etc. pp. Das aber bedrohe die Beziehung oder zerstöre sie gar.

„Gäbe es eine Erinnerung daran, keine Frau würde nach dem ersten ein zweites Kind gebären wollen“, schreibt Azoulay und stellt fest: „Was bleibt, ist das Erlebnis einer Grenzerfahrung.“

Grenzen zu überschreiten, bis an die Grenzen zu gehen, die körperlichen, die emotionalen, gehört heute zur selbstverständlichen Sammlung von Lebenserfahrung. Drogen, Gewalt, Sexualität – hier werden die Grenzen immer wieder überschritten, gelebt und auch medial vermarktet. Doch über eine der extremsten menschlichen Grenzerfahrungen, das Erlebnis der Geburt, wird meistens geschwiegen.

Auch wenn in vielen Ratgebern über Schwangerschaft, Geburt und Säuglingszeit das ein oder andere negative Gefühl von Frauen vor- und dargestellt wird, ist keines der Bücher so drastisch wie dieses.

Dieses Buch über Schwangerschaft und Geburt spiegelt und thematisiert, teilweise auch aus sehr persönlicher Sicht, all die nirgendwo berücksichtigten, düsteren, abseitigen Gedanken und Gefühle wider, die sonst verschwiegen werden. Den nichtvorhandenen Sex. (Viele der interviewten Frauen bestätigen, mit einem Mann zu schlafen sei nach der Geburt erst mal eine völlig absurde Vorstellung.) Die Suche nach einer neuen oder anderen Sexualität. Die Einsamkeit. Die Partnerschaft, die nach der Geburt erst mal neu sortiert werden muß, und auch über die Schwierigkeiten der frischgebackenen Väter mit dieser neuen Situation zu dritt fertig zu werden.

Zugegeben, Männer haben in dieser Situation wenige begehbare Wege. Und Azoulay resümiert dann auch am Ende fast etwas resigniert: „Zwischen dem überlasteten Workaholic, der sich aus dem neuen Chaos ganz ausklinkt, und dem auf Knien kriechenden beurlaubten Vater sind wenige gesellschaftliche Bilder geboten.“

Isabelle Azoulay: „Die Gewalt des Gebärens. Streitschrift wider den Mythos der glücklichen Geburt“. Paul List Verlag, München 1998, 39,80DM