Tanztee und die gute alte Zeit

Wohlfahrtsarbeit in der Marktwirtschaft ist schwer: Das DDR-Überbleibsel Volkssolidarität organisiert in Weißensee für Senioren Tanztees, Kaffefahrten und Videoabende  ■ Von Kirsten Küppers

Das Mikrofon ist übersteuert. Ein schriller Pfeifton durchbricht den Saal der Begegnungsstätte Charlottenhof in Berlin-Weißensee. „Wir lassen uns das Leben nicht vermiesen“, ruft ein Mann in grauer Strickjacke das Motto des heutigen Nachmittages ins Mikrofon. Er heißt Peter Schmitt und ist der Leiter der Veranstaltung. Die rund 60 geladenen Senioren, allesamt Mitglieder der Volkssolidarität Weißensee, strahlen. Jetzt kann es wieder losgehen.

Der helle Raum ist mit Girlanden und Luftballons geschmückt. Es riecht nach Rosenwasser und Kaffee. Auf den Tischen stehen Blumentöpfe. Die meisten Anwesenden sind Frauen. Die Jüngsten sind um die 45.

Am Tisch vorn links ruckelt Maria Scholz, 74 Jahre alt, mit ihrem Korbstuhl. Seit über dreißig Jahren ist sie Mitglied der Volkssolidarität. Früher habe sie als stellvertretende Produktionsleiterin in einem Chemiebetrieb gearbeitet. „Meisterin der Chemie“ habe man das zu DDR-Zeiten genannt. Heute hat sie hellen Lippenstift aufgelegt, ebenso wie ihre Tischnachbarin im selbstgehäkelten Oberteil und Rock. Beide nippen an ihrer Pfirsichbowle, die es umsonst gibt.

Die Volkssolidarität sei eine gute Sache, sagt Emmi Nowak. Ältere Menschen verstünden sich nun mal besser mit Älteren als mit Jüngeren. Sie gehört zum Vorstand des Seniorenvereins. Die Mitglieder treffen sich mindestens zweimal monatlich im Charlottenhof. Die Mitgliedschaft kostet zwei Mark im Monat. Die Devise lautet „Miteinander – Füreinander“. Der Verein organisiert außer den regelmäßigen Treffen „kulturelle“ Veranstaltungen, Busreisen und Kaffeefahrten für die Senioren.

Peter Schmitt erinnert an die Anmeldung für den nächsten Ausflug. Es wird eine Dampferfahrt nach Alt-Schwerin sein. Der 59jährige Arbeitslose arbeitet ehrenamtlich. Früher war er „beim Staatsapparat“ tätig. Er will mit dem Verein den Zusammenhalt unter alten Menschen stärken. Zur Wendezeit hatte sich die Volkssolidarität in Weißensee aufgelöst. 1995 hat Schmitt die Gruppe wieder ins Leben gerufen. Inzwischen zählt sie 180 Mitglieder.

Der Verein, der heute nur ein Häufchen Senioren anlockt, war zu DDR-Zeiten eine der großen gesellschaftlichen Organisationen. Wohlfahrtsarbeit unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ist schwer. Neue Angebote müssen gemacht, jüngere Altersgruppen gebunden werden. Doch den Jungen fehlt die Erinnerung.

Entstanden ist die Volkssolidarität in den Nachkriegswirren im Oktober 1945. Aus der Not geboren, entwickelte sich in Sachsen eine Bewegung unter dem Motto „Volkssolidarität gegen Wintersnot“. Um die auch anderswo entstandenen regionalen Gruppen zu koordinieren, wurde am 20. Mai 1946 ein Zentralausschuß der Volkssolidarität für die gesamte sowjetische Besatzungszone mit Sitz in Berlin gegründet. Dieses Gremium wurde gebildet aus Vertretern der Länder und Provinzen, der Parteien, des FDGB, des Zentralen Frauenausschusses, der FDJ sowie der Kirchen.

In den ersten Jahren schuf und betrieb die Volkssolidarität Kinderdörfer, Tagesstätten, Alten- und Schwerbeschädigtenheime, Nähstuben, Werkstätten, Volksküchen und Wärmestuben.

In den fünfziger Jahren widmete sich die inzwischen zur gesellschaftlichen Institution avancierte Bewegung vorrangig der Betreuung älterer Menschen. Über die Jahrzehnte versorgten Hunderttausende ehrenamtliche Helfer und Zehntausende Betreuungskräfte Senioren mit einer warmen Mittagsmahlzeit in den Klubs der Volkssolidarität, zunehmend aber auch zu Hause. Seit der Wende ist die Volkssolidarität ein gemeinnütziger Verein, seit Dezember 1990 Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband.

Eine sorgfältig frisierte weißhaarige Frau tritt an das Mikrofon. Mit geübter Berliner Schnauze gibt sie schlüpfrige Witze zum besten. Ein kleiner Herr in braunem Anzug dreht verzweifelt am Verstärker, um das fiepende Geräusch des noch immer übersteuerten Mikrofons abzustellen. Es handelt sich um ihren Conferencier und Lebensgefährten. Zusammen sind sie das Ehepaar Seifert, seit 1972 unterwegs als „Die Berliner Pflanzen“. Einige Zuhörer sprechen die vorgetragenen Texte auswendig mit: kleine Zoten um garstige Ehefrauen oder Mädchen mit Hühnerbrüstchen. Einige Damen und Herren haben von der Bowle schon rote Bäckchen bekommen.

Zwischendurch gibt es Musik vom Band aus der Schellackzeit. Etliche Gesangsstücke vom Band sind frühe Aufnahmen der Seiferts selbst. In Ginger-und-Fred-Manier versuchen die beiden alternden Showtalente auf kokette Art die Senioren zum Tanzen zu bewegen. Dann gibt es Kuchen. Selbstgebacken vom Küchenpersonal des Charlottenhofes. Angestellt sind hier vor allem ABM-Kräfte. Mit weißen Schürzchen servieren diese jetzt Käse- und Apfelkuchen, 90 Pfennig das Stück.

Zum Schluß steht das Video von der letzten Weihnachtsfeier auf dem Programm. Erich, der etwa 70jährige Hobbyfilmer, schiebt stolz das Band in den Recorder. Auf dem Bildschirm ist eine Gruppe älterer Menschen zu sehen. Sie sitzt um einen Weihnachtsbaum. Die Kameraeinstellung wechselt nicht.