Der Philosoph tanzt

Youssef Chahine, Doyen des ägyptischen Kinos, und sein Film „Das Schicksal“: Ein opulentes Historiendrama als Attacke gegen die Fundamentalisten dieser Welt  ■ Von Daniel Bax

Vier Jahre ist es her, daß in Ägypten der Film „Der Emigrant“ per Gerichtsurteil aus dem Verkehr gezogen wurde. Eine halbe Million Zuschauer lockte der Kassenschlager in die Kinos, dann wurden, nach sieben Wochen Spielzeit, alle Kopien konfisziert. Der Hintergrund: Youssef Chahine, Doyen des ägyptischen Kinos, hatte sich mit seinem Film eng an die Geschichte des biblischen Joseph angelehnt. Dummerweise hatte die al-Azhar- Moschee, die wichtigste religiöse Institution des Landes, ein paar Jahre zuvor die Abbildung von Propheten zu künstlerischen Zwecken als unislamisch verdammt. Unter Verweis auf diese Fatwa strengte ein islamistischer Anwalt ein Verfahren gegen den Filmemacher an – und kam damit, zum Entsetzen der säkularistischen Intelligenz, durch.

Obwohl Chahine die Berufung gewann, ist der Film immer noch nicht zugelassen. „Das ist immer noch in den Händen der Richter. Alle Mittel, das Verfahren zu verschleppen, werden eingesetzt. Ich kann deswegen im Moment nicht sagen, daß ich das Recht habe, meinen Film zu zeigen“, gibt der Regisseur beim Pressetermin in seinem Berliner Hotelzimmer erstaunlich vergnügt Auskunft über den Stand der Dinge. Chahine ist niemand, der lange seine Wunden lecken würde. Der 72jährige ist agil, angriffslustig und bester Laune und gibt an diesem Morgen ohne Punkt und Komma und auch nicht ohne Eitelkeit seine Meinung zu Gott und der Welt kund. Im Schnellgang springt er mit spöttischem Vergnügen von einem Thema zum anderen: das ägyptische Fernsehen („verdummend“), die Lage des ägyptischen Films („schlecht, weil wir einen Informationsminister haben, der entschieden hat, daß jeder so denken soll wie er“), sein Ruf als Enfant terrible („Ich habe eine große Nase, also stecke ich sie überall hinein“), seine Schüler („Sie sind alle so ungezogen wie ich. Großartig“), seine Arbeitswut („Ich arbeite zwölf Stunden pro Tag, seit fast 50 Jahren. Ich stehe um vier Uhr morgens auf und arbeite bis acht Uhr“), seine Arbeitsweise („Manchmal ändere ich ein Skript während der Dreharbeiten bis zu 21mal“), die Dreharbeiten für seinen nächsten Film („Wir haben in der irakischen Vertretung in Kairo gedreht. Gut, daß kein Botschafter da war, er wäre sicher sehr wütend geworden. Wir waren sehr laut. Und schmutzig“) und die Verantwortung eines Regisseurs („Wenn dir jemand zwei Stunden seines Lebens gibt, um deinen Film zu sehen, dann tut er dir einen großen Gefallen. Wenn du da keine Verantwortung spürst, dann stimmt etwas nicht mit deinem Kopf“).

Youssef Chahine, prominenter Außenseiter des ägyptischen Kinos und zugleich dessen international bekanntester Repräsentant, ist sich seiner Sonderstellung bewußt. Was sind da schon so ein paar Unbelehrbare, die seinen Film verbieten wollen? Spitzbübisch linst er durch seine dicken, eckigen Brillengläser: „So, wie sie maliziös sein können, kann ich auch maliziös sein und den Film per Satellitenfernsehen verbreiten lassen.“ Arabische Satellitensender zeigen den Film? „Ja – und es zirkulieren Videokopien, eine subversive Waffe par excellence. In der Regel werden die Kassetten raubkopiert. Das ist für mich als Autor unter zwei Aspekten enervierend: Ich werde finanziell beraubt und zweitens künstlerisch, weil das, was man sieht, nur ein Schatten des eigentlichen Films ist. Aber wenigstens werden die Sachen weiterverbreitet und gesehen.“ So gewinnt Chahine noch der grassierenden Videopiraterie, einer Geißel seiner Zunft, Gutes ab.

Der Regisseur hat die Zensur inzwischen auf seine Art beantwortet. Sein Spielfilm „Das Schicksal“, der letzte Woche in deutschen Kinos startete und der 1997 in Cannes lief – dort erhielt Chahine den Jubiläumspreis des Festivals für sein Lebenswerk –, ist eine Abrechnung mit dem ansteigenden Fundamentalismus in Ägypten und anderswo. Und ein pralles Spektakel! Hauptfigur des Films, dessen Handlung im andalusischen Córdoba des 12. Jahrhunderts spielt, ist der Philosoph Ibn Ruschd. Seinerzeit eine Art islamischer Pionier der Aufklärung, sprach er der menschlichen Vernunft eine ebenso wichtige Rolle zu wie dem Glauben an die Offenbarung. Der Gelehrte, dessen Schriften im Mittelalter auch im christlichen Abendland großen Einfluß ausübten, ging unter dem lateinischen Namen Averroes als Kommentator der Werke des Aristoteles in die Geschichte ein. 1198 starb er in Marrakesch, der Tod des Philosophen jährte sich im letzten Jahr passenderweise zum 800. Mal, rechtzeitig also für Chahines filmische Reminiszenz.

Chahine läßt seinen Philosophen tanzen, wenn ihm ein guter Einfall kommt. Er plaziert den historischen Ibn Ruschd als Held ins Zentrum eines opulenten Historiendramas, ganz im Stile eines Alexandre-Dumas-Romans: Intrigen am Hof von Córdoba bringen den Philosophen (gespielt von Nour El-Cherif) in Gefahr, und eine gefährliche Sekte rekrutiert den Sohn des Kalifen, um ihn für ihre finsteren Zwecke einzuspannen. Die Sekte wird vom heimtückischen Scheich Riyad, einem Konkurrenten Ibn Ruschds, instrumentalisiert; er will die Macht im Staate an sich reißen. Wichtige Nebenrollen spielen der junge Josef, der aus Frankreich nach Andalusien kommt, um bei Ibn Ruschd zu lernen, sowie der Sänger Marwan (dargestellt durch den populären Musiker Mohammed Mounir), der einem Mordanschlag verhetzter Fanatiker beim ersten Mal noch entgeht, beim zweiten Mal erliegt – ein Verweis auf das Schicksal algerischer Rai-Sänger, aber auch ägyptischer Literaten wie Nagib Mahfus oder Farag Foda. Marwan gibt poppige Lieder zum besten, mit Texten, die wohl nicht nur in der Übersetzung vor Pathos bersten: „Erhebe die Stimme zum Gesang! / Noch sind Lieder möglich / unser Leben währt noch lang.“ Wo man so singt, da wächst kein Fundamentalismus mehr.

Plakativ setzt Chahine auf die im arabischen Kino beliebte Form der Allegorie – Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind mehr als beabsichtigt –, um sein „Wehret den Anfängen!“ unter die Leute zu bringen. „Das Schicksal“ ist eine populäre Geschichtslektion mit pädagogischer Absicht; Chahine entwirft eine der fundamentalistischen Interpretation entgegengesetzte goldene Vergangenheit und malt sie in schönsten Farben aus. Gedreht wurde übrigens in Syrien und im Libanon – an den Originalschauplätzen standen zu viele Touristen im Weg. Die Geschichte ist ansprechend verpackt: Prächtige Kulissen, bunte Kostüme und theatralische Tanzszenen schmücken das Szenario, das von finsteren Schurken, schönen Zigeunerinnen und heißblütigen Jünglingen bevölkert wird. „Grundsätzlich muß ein Film unterhalten. Der Trick ist, zu unterhalten und dabei eine Botschaft mit auf den Weg zu geben“, ist Chahines Credo. Daß er dies als Zwanzigjähriger durch sein Filmstudium in den USA gelernt habe, fügt er gerne hinzu.

Ohne Kofinanzierung aus Frankreich hätte „Das Schicksal“ allerdings nicht realisiert werden können. Die ägyptische Filmindustrie, einst als „Hollywood am Nil“ weit über die Grenzen der arabischen Welt hinaus von Bedeutung, liegt heute am Boden: Von früher rund 120 ist die Produktion auf nur mehr 12 Filme pro Jahr gesunken. Youssef Chahine macht dafür das staatliche Fernsehen verantwortlich: „Sie wollen das Kino töten. Zwar produzieren sie auch, aber völlig anders. Jeder Schauspieler, jeder Künstler, der seinen Fuß in ein Fernsehstudio setzt, dessen Mentalität ändert sich total. Da findet keine künstlerische Intervention statt, da ist kein Regisseur, der wirklich etwas sagen will.“ Um ihre Unabhängigkeit zu behaupten, brauchten Ägyptens Filmemacher daher Unterstützung. Gerade daran aber mangelt es offenbar, klagt Chahine: „Das ZDF hat aufgehört, meine Filme zu kaufen. Ein Film alle zwei Jahre – es hat sie nicht ruiniert. Für mich aber ist es eine Überlebensfrage. Wenn Deutschland oder Frankreich nicht kaufen, wie zum Teufel soll ich einen Film machen, der kritisch ist für die Araber?“

Youssef Chahine, der letzte Kosmopolit, der die Stellung hält? Multikulturelle Harmonie jedenfalls wird in seinen Filmen stets großgeschrieben. Nicht anders in „Das Schicksal“, wo sich freundschaftliche und amouröse Beziehungen über konfessionelle, ethnische und ständische Schranken hinwegranken. Nur die Liebe zählt! Und auch das Eintreten für die Meinungsfreiheit kennt keine Grenzen: Am Anfang des Films steht ein Scheiterhaufen im französischen Languedoc, auf dem ein Übersetzer der Schriften Ibn Ruschds, von der Inquisition der Häresie angeklagt, verbrannt wird. Am Ende steht eine öffentliche Bücherverbrennung, ein Autodafé, bei dem in Córdoba die Bücher des Philosophen den Flammen übergeben werden. Intoleranz hüben wie drüben, doch Hoffnung keimt: Abschriften sind längst in Sicherheit, von Josef nach Frankreich und von Prinz Nasir, dem zweiten Sohn des Kalifen, nach Ägypten gebracht.

Die etwas naive Moral, die stilisierten Tanzeinlagen, die statische Kamera, der Mangel an psychologischem Feinschliff und manch andere Konzession an den ägyptischen Massengeschmack mögen für den mitteleuropäischen Zuschauer auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig sein. Trotzdem schlägt einen „Das Schicksal“ über zwei Stunden in Bann, ohne auch nur einen Moment zu langweilen. Was erklärt, warum der Film auch in Frankreich 600.000 Besucher fand. „,Das Schicksal‘ ist ein Film, der glücklich macht. Und Lust, das Glück zu teilen“, textete ein beschwingter Le Monde-Korrespondent aus Cannes.

Eine unfreiwillig komische, wunderbar kitschige Szene zeigt, wie der strahlende Prinz Abdallah, aus der Gewalt der Sekte befreit, an einen Stuhl gefesselt den Klängen vor der Tür lauscht. Die Gehirnwäsche der Fanatiker hat ihn unempfindlich gemacht für die Zurede seiner Freunde, doch die Musik vermag es, ihn aus seinem stumpfen Geisteszustand zu reißen. Erst rinnt ihm eine Träne aus dem Auge, dann kann er sich nicht mehr halten, und bald rüttelt er wie besessen an seinen Fesseln. Ob das nicht ein bißchen viel Vertrauen in die Macht der Musik ist? Findet Youssef Chahine nicht: „Das hat mich so ein Extremist auch gefragt: Nur weil er ein bißchen Musik hörte, kam der Prinz wieder zu Sinnen? Und ich antwortete: Ja, für mich ist dies das menschliche Wesen. Das ist meine Meinung. Wenn es dir nicht gefällt, schau dir lieber Karate-Filme an.“

„Das Schicksal“. Regie: Youssef Chahine. Mit Nour El-Cherif, Laila Eloui, Mohammed Mounir, Hani Salama u.a. 135 Minuten, Frankreich/Ägypten 1997