Schafft diesen Gedenktag wieder ab!

■ Der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz, ist seit 1995 der offizielle deutsche Gedenktag. Und niemand merkt es

Es könnte alles so schön werden: erst ein ordentlicher Gedenktag für die Opfer, dazu das für den ausländischen Besucher eindrucksvolle Eisenman-Mahnmal. Letzterem wird nun vielleicht ein halbherziger Strich durch die Rechnung gemacht, doch der Gedenktag, ohne viel Debatte und in beflissener Hast 1995 beschlossen, hat alles unbeschadet überstanden.

Er scheint als Gedenktag für alle Nazi-Opfer weniger kontrovers: Der 27. Januar erinnert an die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee 1945. Doch zu diesem Zeitpunkt war das KZ nur noch ein Schatten. In den Wochen zuvor hatte sich die Mordmaschinerie verlangsamt, zehn Tage zuvor wurde Auschwitz evakuiert, über 130.000 Häftlinge wurden auf Transporte und Todesmärsche geschickt, und nur ein elendes Überbleibsel von knapp 8.000 Insassen wurde am 27. Januar befreit.

Warum wurde dieser Tag gewählt? Warum keiner der historisch und national bedeutsamen Tage? Warum nicht der 30. Januar 1933, als die Deutschen Hitler zujubelten? Warum nicht der 10. November 1938, der zentrale Tag der Novemberpogrome, als viele Deutsche zusahen und viele mitmachten? Warum nicht der 1. September 1939, der Beginn des Zweiten Weltkriegs? Oder der 20. Januar 1942, der Tag der Wannseekonferenz? Oder der 8. Mai, der Tag nicht der Befreiung eines einzelnen KZ, sondern der Befreiung Europas insgesamt?

Greifen wir zwei dieser Tage heraus: Der 1. September signalisiert nicht nur das Morden in den Lagern, sondern den Tod von weit über 20 Millionen Menschen, den dieser Krieg verursachte. Tatsächlich wurde dieser Tag, was wenigen heute bewußt ist, nicht nur in der jungen DDR, sondern auch in Westdeutschland begangen, und zwar am 2. Sonntag im September, als Gedenktag für die Opfer der Naziverbrechen. In der restaurativen Phase im Kalten Krieg wurde dieser Gedenktag im Westen klammheimlich entsorgt – die damalige jüdische Vertretung in Deutschland nahm dies halb empört, halb resigniert zur Kenntnis. Die Wiederherstellung dieses Tages nach der deutschen Vereinigung hätte also nicht nur die Verbindung zu den antinazistischen Anfängen der gesamtdeutschen Nachkriegszeit und dem positiven Kern des antifaschistischen Gedenkens im Osten wiederhergestellt, sondern die Würde aller Verfolgten und aller Ermordeten als gleichwertige Opfer betont.

Oder nehmen wir den 10. November, den Tag der Pogrome. Übrigens nicht, wie fälschlich immer noch behauptet, den 9. November, die „Reichskristallnacht“, denn die Verwüstungen, Plünderungen und Brände geschahen am Morgen des 10. November – vor aller Augen, am hellichten Tag. Ebendieser Tag, das Startsignal zum Großangriff auf die Juden, wirft die Schuldproblematik auf, die zuletzt in der Goldhagen- Debatte zum Ausdruck kam: über jene, die sich angewidert abwandten oder auch heimlich Juden halfen, jene, die hilflos schweigend oder mehr oder weniger belustigt zusahen, jene, die vor den Juden die Türen schlossen, jene, die der SA freudig zuarbeiteten.

Es ist bemerkenswert, daß dieser Tag, eben aufgrund seiner lebendigen Erinnerung im Herzen fast jeder deutschen Stadt, in den letzten zwei Jahrzehnten zum Anlaß breiten Gedenkens, gewiß auch oft im Fragwürdigen, geworden war. Es ist ein Tag nicht nur mit dramatischer Suggestion, der Nachvollziehbares erzählt und transportiert: die Aussonderung der eigenen Bürger, das eklatante, allen sichtbare Unrecht mit der Zerstörung von Gotteshäusern, Mißhandlung auch älterer Menschen und dem zerstörten Mobiliar von Bürgerhäusern auf der Straße. Nach der Vereinigung gewann dieser Tag angesichts heutiger Pogrome gegen Ausländer neue Aktualität. Der neue staatliche Gedenktag, der 27. Januar, neutralisiert ebendieses Gedenken der Novemberpogrome.

Der 27. Januar ist ein fernes, konstruiertes Datum, ohne deutsche Erinnerung, in einem anderen Land und ohne deutsche Akteure, denn selbst die SS-Wachmannschaften waren damals bereits verschwunden.

Für die Verfolgtenseite mag dieser Tag ein Symbol der Befreiung sein, es waren ihre Angehörigen, die nun das Ende dieses Schreckens vor sich sahen. In Deutschland stand hinter der Entscheidung für diesen Tag offenbar die wohlmeinende, doch naive und beschönigende Idee, in Solidarität mit der Opferseite an das Ende des Mordens zu erinnern. Dadurch, daß der Befreiung von Auschwitz statt seiner Errichtung gedacht wird, stellt sich Deutschland an die Seite der Opfer und der Siegermächte – ein Anspruch, der Deutschen nicht zusteht. Der 27. Januar suggeriert darüber hinaus ein „Ende gut, alles gut“. Ein Tag der Erinnerung für Deutsche soll er sein, doch tatsächlich ist es ein Tag der Zubetonierung von Erinnerung, ein Tag, der den historischen Schlußstrich signalisiert.

Wir könnten nun pragmatisch argumentieren: Solange dieser Tag engagiert begangen wird, wäre es ja gut; zumindest besser als gar nichts. Doch der 27. Januar ist eben gerade nicht angenommen worden, er ist ein Tag ohne deutsche Erinnerung geblieben. Die obligatorischen Reden werden zwar gehalten, doch schon bei seiner Einführung 1996 wurden die Feiern im Bundestag um einige Tage vorverlegt, weil es den Abgeordneten so wegen der Urlaubszeit besser paßte. Auch 1998 waren die Gedenkfeierlichkeiten Pflichtübungen, die in der Mahnmaldebatte untergingen: Über diesen Tag gab es wenig zu sagen, da kam die Mahnmaldebatte gerade recht.

Als nach dem Fall der Mauer das nationale Gedenken neu geordnet wurde, mußte bekanntlich der 17. Juni dem 3. Oktober weichen. Ein visionärer Wurf wäre es gewesen, den 9. November zum Nationalfeiertag und den darauffolgenden 10. November, den historischen Tag der Pogrome, zum Gedenktag für die NS-Opfer zu erklären. Die Freude über die Einheit Deutschlands wäre somit gepaart worden mit der Trauer über diese Katastrophe. Der 9. November als Erinnerung an die Zivilcourage der ostdeutschen Bevölkerung, die die Vereinigung ja erst ermöglichte, und der 10. November als Hinweis auf einen Mangel an Zivilcourage, wo es um eklatantes Unrecht und Hilfe für bedrängte Bürger ging. Statt des ostorientierten 9. November wurde der westzentrierte 3. Oktober gewählt und nicht die demokratische Bewegung im Osten, sondern Schäubles bürokratisch-juristisches Einigungswerk des Westens gewürdigt. Mit dem 27. Januar wurde ein Datum gewählt, das Erinnerung eher verhindert. Michal Bodemann