Singapurs sündhaft teure Redefreiheit

■ Der Oppositionspolitiker Chee läßt sich trotz ruinöser Klagen der Regierung nicht einschüchtern und besteht auf seiner Redefreiheit

Bangkok (taz) – Wer in Singapur wagt, offen die Regierung zu kritisieren, muß sehr mutig oder sehr verzweifelt sein. Chee Soon Juan, Chef der winzigen Demokratischen Partei (SDP), ist wohl beides – und soll dafür teuer bezahlen: Weil der 36jährige in den letzten Wochen zweimal vor Hunderten Zuhörern im Geschäftszentrum Singapurs demokratische Freiheiten forderte, soll er am 1. Februar vor Gericht. Die Anklage: unerlaubter öffentlicher Auftritt vor mehr als fünf Personen. Dies kann mit umgerechnet 5.000 Mark und einem fünfjährigen Verbot der Ausübung öffentlicher Ämter bestraft werden.

Chees Aktionen, die woanders kaum Aufsehen erregen würden, schlagen im autoritär regierten Stadtstaat hohe Wellen. Denn sie widersprechen dem von der seit 40 Jahren herrschenden People's Action Party (PAP) gepflegten Bild einer dankbaren Bevölkerung, die gar nicht auf die Idee komme, gegen die Regierung aufzubegehren. Nach Ansicht des früheren Premierministers Lee Kuan Yew und seines Nachfolgers Goh Chok Tong verdanken die Singapurer es ihrer strengen Führung, daß ihre Heimat eine Oase von Wohlstand und Ordnung in Südostasien ist.

Die Zeitungen üben sich in Selbstzensur. Mit scharfen Gesetzen, die politische Aktivitäten beschränken, und mit ruinösen Klagen wurden Kritiker bisher immer wieder kaltgestellt. So sitzen im 93köpfigen Parlament nur drei Oppositionsabgeordnete. Der prominenteste, der 73jährige Anwalt J.B. Jeyaretnam, steht vor dem Bankrott. Er weiß nicht, wie er die hohe Entschädigung an mehrere Politiker, darunter Lee und Goh, aufbringen soll, zu der ihn 1997 ein Gericht wegen „Verleumdung“ verurteilte.

„Die Angst ist Teil der Psyche Singapurs geworden“, begründet Chee seine jüngsten Auftritte, bei denen er sich auf die verfassungsmäßig garantierte Redefreiheit beruft. Deshalb sei es „wichtig, die Leute zu überzeugen, daß es okay ist, die Regierung zu kritisieren“. Er versuche erst gar nicht mehr, eine Erlaubnis zu erhalten, sagt er. Anträge seien stets abgelehnt oder erst in letzter Minute gewährt worden, um öffentliche Auftritte unmöglich zu machen.

Chees Rebellion begann leise: Als der Neuropsychologe nach der Promotion 1990 aus den USA zurückkehrte, schien ihm eine gute Karriere sicher. Doch bald eckte er an. Obwohl Vorgesetzte ihn warnten, schrieb er Leserbriefe an die lokale Tageszeitung Straits Times, in denen er das rigide Bildungssystem Singapurs in Frage stellte. 1992 schloß er sich der Opposition an. Bei den Parlamentswahlen ließ er sich gegen Premierminister Goh aufstellen. Die Quittung ließ nicht lange auf sich warten. Chee verlor seinen Job an der Universität. Die offizielle Begründung: Er habe das Porto für die Einsendung der Doktorarbeit seiner Frau aus der Forschungskasse bezahlt. Als Chee protestierte, verklagten ihn seine Vorgesetzten wegen Verleumdung. Um die Strafe von 400.000 Mark aufzubringen, mußte Chee seine Wohnung verkaufen. Danach wollte niemand mehr ihn und seine Frau einstellen. Er eröffnete eine eigene Praxis, doch nur wenige Kollegen wagten es, ihm Patienten zu überweisen. Mit Gelegenheitsarbeiten und einem australischen Stipendium hält sich das Ehepaar über Wasser. Sein neues Buch, „Frei sein“, über asiatische DemokratiekämpferInnen wie die Burmesin Aung San Suu Kyi und den Südkoreaner Kim Dae Jung ist in Singapurs Buchläden nicht zu finden. Weil er signierte Ausgaben ohne Genehmigung verkaufte und damit angeblich gegen ein „Gesetz zum Schutz der öffentlichen Gesundheit“ verstieß, muß er mit einem weiteren Prozeß rechnen. Jutta Lietsch