Tot sein verboten

Auferstanden aus Archiven: Ein Leinwand-Elvis, zu dem eine Live-Band spielt, versetzt das Publikum in Hysterie, als wären die letzten zwanzig Jahre nicht vergangen. Ziemlich viel Tamtam um einen Videoabend  ■ Von Marcelo Millot

Das Vergangene ist niemals tot, es ist nicht einmal vergangen“, behauptete schon William Faulkner. Das mediale Comeback des bislang zu Recht für tot gehaltenen Elvis Presley wird der amerikanische Schriftsteller bei dem Gedanken nicht im Sinn gehabt haben. Gerade in Faulkners letzten Lebensjahren (er starb 1962) kreiste Elvis so lebendig und schwungvoll die Hüften, wie er es später nie mehr tat. Allerdings muß auch das nicht mehr vorbei sein. Mit aller Gewalt zerrt man den 1977 verschiedenen Elvis aus seinem Grab hervor, stößt ihn in eine Gegenwart, in der er veränderten Bedürfnissen Rechnungen zu tragen hat. Noch größer, noch besser, noch erfolgreicher muß er sein, so viel ist schon mal klar.

Die amerikanischen Medien bejubelten bereits im vergangenen Jahr die Auferstehung. „The King is back!“ schlagzeilte die New York Post auf der ganzen Titelseite. Sämtliche Fernsehsender, von CBS bis ABC, überboten sich mit Superlativen anläßlich der ausverkauften Elvis-Show an drei Abenden in der New York City Hall. „Elvis ist so groß wie nie zuvor“, befand ein Kommentator der Fox News.

Tatsächlich groovt Elvis bei seinen Konzerten neuerdings in monströsen Maßen von 20 Fuß Höhe und 10 Fuß Breite. Auch die Zuschauer, so machen die Fernsehbilder glauben, sind begeistert. „Great, great, great“, lallt die glückstrunkene Horde nach der Show in die Mikros der TV-Anstalten. „Absolut phantastisch“, freut sich auch ein dauergewelltes Girl in Rüschenkleidung. „Der King lebt! Lang lebe der King!“ Daß er jetzt auf einer Giga-Videoleinwand „lebt“ und seinen Gesang vom Band schmachtet, stört die Fans nicht.

Elvis-untaugliche Hüftpassagen

Sorgsam wurden Klassiker wie „I Can't Stop Loving You“, „Johnny B. Goode“ „Heartbreak Hotel“ oder „Love Me Tender“ aus alten Elvis-Konzert-Filmen und TV- Specials der Jahre 1968–73 herausgefiltert. Die noch echtere Live-Musik spielen ehemalige Weggefährten, die den King zwischen 1969 und 1977 bei über 1.000 Auftritten begleitet hatten: Die TCB-Band sowie die männliche Vokalgruppe J. D. Sumner & The Stamps und ihr weibliches Pendant, der Gospelchor The Sweet Inspirations.

Viele Musiker sind schon ergraut, mit Falten im Gesicht und Elvis-untauglichen Hüftpassagen. Aber wer will schon kleinlich sein. Das ist Rock 'n' Roll 1998/99. Hinzu gesellt sich ein gesetztes 16köpfiges Philharmonie-Orchester, das den 32 Songs des späten Elvis den nötigen Bombast und Kitsch verleiht. Über 100 Mitarbeiter sind an der Show beteiligt. Die Lichtanlage funktioniert automatisch. Schließlich verläuft jeder Abend identisch, Ansagen von Elvis inklusive. Den King versorgt ein Diener ganz allein. Er legt die Kassette in den Rekorder und drückt auf „Start“. Ziemlich viel Tamtam für einen Videoabend.

Als Sensation vermarktet der Veranstalter die erste Welt-Tour des King, der in seinem vorherigen Leben nur in den USA und Kanada aufgetreten war. Doch zur Sensation taugt das Spektakel nicht. „Elvis – The Concert“ ist nur die logische, kaum überraschende Folge der aktuellen weltweiten Medienpolitik und eines entsprechend veränderten Rezeptionsverhaltens der Konsumenten. Auf authentische Kommunikation zwischen Künstler und Publikum, auf ein authentisches Erleben von Musik bei Massenveranstaltungen wird schon lange kein gesteigerter Wert mehr gelegt. Auch bei Stadion-Events der Rolling Stones und Michael Jacksons kommen nur wenige Besucher ihren Helden wirklich nah. Für den visuellen Zugang sorgt bei solchen Gelegenheiten längst, genau wie bei Elvis, die Videoleinwand. Die Konzerte hauen trotzdem rein. Hauptsache, der Sound wummert gewaltig, und die Lightshow strahlt perfekt. Form und Style sind alles, der Inhalt gerät zur Nebensache.

Vom Standpunkt der Kulturindustrie ist das nachvollziehbar. Wo was zu verdienen ist, wird das Patschehändchen aufgehalten. Muß Elvis der Kohle wegen eben noch einige Jährchen dranhängen. Solange, bis neue Trendideen kommen. Die Frage, ob Elvis das alles auch so gewollt hätte, erübrigt sich. „Natürlich“ hätte er, beruhigt Elvis' alter und neuer musikalischer Direktor Joe Guercio. „Natürlich“, bestätigt auch Produzent Stig Edgren, der schon Papst Johannes Paul II. und die Amtseinführung der Präsidenten Reagan, Clinton und Mandela ins rechte Licht zu rücken wußte. „Elvis hätte es geliebt, seine alte und neuer Hörerschaft wieder zu beglücken“, ist Co-Producer Todd Morgan sicher. Vorwürfe der Heuchelei und Moralpetitionen in diese Richtung wären unangebracht. Niemand wird gezwungen, sich Elvis-Konzertkarten zu kaufen. Wer den Leichenschmaus nicht goutiert, darf die Musik weiterhin zu Hause genießen. Am besten auf CD und „digitally remastered“.

Lady Diana läßt grüßen

Absurd wirkten die Reaktionen des New Yorker Publikums dennoch. Nostalgie oder die Lust am Retrospaß waren kaum spürbar. Zu den Songs des virtuellen Elvis schreien und kreischen junge wie alte Zuschauer in künstlicher Massenhysterie, als seien die letzten 20 Jahre nicht vergangen. Ihr Aufstand gilt naturgemäß nicht der Qualität von Musik und Live- Band. Er huldigt der Mattscheibe, ihren bewegten Bildern und nicht zuletzt sich selbst, dem Publikum. Echte Tränen fließen vor der Videoleinwand, rote Rosen fliegen auf die Bühne. Prinzession Diana läßt auch ganz herzlich grüßen. Der Wille zum Kult ist absolut, doch der Künstler leider nicht da. Wer, wenn nicht er, soll jetzt das Zeichen geben, das Unkraut von der Bühne zum Mülleimer zu tragen?

Die Sehnsucht nach Rock'n'Roll beziehungsweise der Wunsch, eine ähnlich prägende Ära wie die von Elvis persönlich erleben zu dürfen, ist anscheinend immens. „Ich konnte den King früher nie sehen, weil ich zu jung war“, erzählt eine glückliche Amerikanerin beim Elvis-Konzert in New York. „Nun bekomme ich doch noch die Chance und will sie nutzen.“ Ein Nachholbedürfnis, das auch der Ire Jim Brown alias „The King“ bedient, dessen Elvis-Impersonator- Show parallel über die Lande zieht. Moderne Zeiten: Ein stimmlicher Wiedergänger streitet mit einem medialen Klon um die Gunst des Publikums.

Megastars der Gegenwart stillen diese Bedürfnisse nicht mehr. Weder R.E.M. noch die Backstreet Boys repräsentieren die Epoche, in der sie leben, sondern Trends und Images. Moderne Musikzeitgeschichte kann im großen Rahmen nicht authentisch gelebt werden. Wenn irgendwo, findet sie noch im kleinen Club statt, im sogenannten Underground. Doch genau dort gelangt und paßt Otto Normalbürger, ob alt oder jung, nicht hin. Für ihn ist „Elvis – The Concert“ die letzte Hoffnung. Im gemeinsamen Lärm, den Tränen und den Rosenbetten drückt sich sein spätes Streben nach Identität mittels Musik aus.

Vogelfreie Popikonen

Leider sucht und schreit er am falschen Ort, trost- und hilflos. Unmöglich, ihn ernst zu nehmen. Jede Trash- und Gute-Laune-Fete mit Modern Talking müßte für ihn realistischer und darum erstrebenswerter erscheinen. Das historische „Ich war dabei“ des mutmaßlichen Zeitzeugen zählt bei „Elvis – The Concert“ nichts, ist nur ein Fake mehr. Es dokumentiert den allein kommerziell erfolgreichen Versuch, dem Zug von Zeit und Geschichte noch ein bißchen länger nachzuwinken.

Auf dem Bildschirm vergeht der King vermutlich nie. Er ist sein wahres Grab. In Amerika kann man Elvis schon jetzt samt Tolle in der Pizzawerbung sehen und seine Evergreens singen hören, perfekt am Computer eingescannt, zwischen Salami und Schinken. Auch Fred Astaire hätte wohl nie vermutet, einmal für den neuesten Küchenbesen das Tanzbein zu schwingen. Beide können sich gegen ihre Mißhandlung nicht wehren.

Andere, die dazu in der Lage wären, füllen lieber ihr Bankkonto. Sängerin Nathalie Cole zitierte selbst ihren verstorbenen Vater Nat King Cole zum Familien-Hit „Unforgettable“ aus der Gruft herbei.

Auch friedlich ruhenden Filmheroen rüttelt man am Skelett. Der Spiegel berichtete kürzlich von der digitalen Rekonstruktion des Hollywood-Komikers W. C. Fields, der in Werbe- und Messefilmen erneut feixen soll. Sein Kopf wird dafür per Computeranimation nachgebildet. Die Mimik ist frei steuerbar, die Stimme dem Original synthetisch abgerungen. Den Körper muß noch ein wirklicher Schauspieler von möglichst ähnlicher Konstitution zur Verfügung stellen. Angst braucht einem das nicht zu bereiten: Den kleinen Rest Mensch kriegt man gewiß auch noch weg.

Die Elvis-Tour in den USA war ein Mega-Erfolg, ihre Fortsetzung mit anderen Grufties ist in Planung. Oft fallen die Namen von Janis Joplin und Jimi Hendrix. Auch dem chronisch geldgeilen Paul McCartney wäre in dieser Hinsicht alles zuzutrauen. Von der posthumen Beatles-Komposition „Free As A Bird“ zum superechten Live- Event mit John Lennon und den anderen Jungs ist es nur ein kleiner Schritt. Die Kassen meint man schon jetzt besinnlich klingeln hören zu können. Auch für diese Ikonen der Popkultur gilt: Tot sein verboten.

„Elvis – The Concert“: Deutschland-Termine: 27.1. Hamburg, 28.1. Leipzig, 29.1. Hanau, 30.1. Oberhausen, 1.2. Berlin.

Jim „The King“ Brown: 27.1. Hamburg, 28.1. Leipzig, 29.1. Hanau, 30.1. Oberhausen, 1.2. Berlin