■ Normalzeit
: Der Klarsichthüllen-Krieg

Es gibt einen völlig verdrehten Preiskampf bei den Klarsichthüllen, ich meine die mit den vier Löchern am Rand zum Abheften.

Neulich war ich im Ostbezirk Friedrichshain auf der Suche danach und fand welche, die 6 Pfennig kosteten: 100 Stück zu 5,95 Mark. Im Westen sind sie viel teurer. In einer Jahres-Ausgabenliste der Bundeswehr fand ich z.B. den Posten Klarsichthüllen (800.000 Stück) mit etwa 100.000 Mark verbucht. Das heißt, die Hardthöhe bezahlte für jede Plastikhülle 12,5 Pfennig. Das muß an den Zwischenhändlern liegen.

Seit SPD-Vogel die Klarsichthüllen als für die postmoderne Politik wesentlich pries, verbreiten sie sich wie Safer Sex in der Scene. Neulich sah ich sie sogar schon beim Kontaktbereichsbullen. Allerdings verwendete er sie nicht für Dokumente, sondern für ein unförmiges Corpus delicti. Ich bekam von einem dynamischen Ost-Steuerberater den Tip, alle Quittungen in Klarsichthüllen zu präsentieren – dem Finanzamt. Seitdem sind meine Steuererklärungen so dick wie früher die von Großbetrieben. Die letzte Erklärung schleppte ich persönlich zum Kreuzberger Finanzamt. Es residiert in der Burgattrappen-Kaserne des Kavallerieregiments. Dieses Regiment liquidierte 1918 die revolutionären Arbeiter. Über die derzeitigen Kasernenbenutzer kann ich vorerst nicht klagen: lustige und verschwatzte junge Mädchen, denen man jedoch ansieht, daß sie – als angehende Steuerbeamte – knallhart sind, wenn es um Zahlen geht.

Das mit den Klarsichthüllen hat anscheinend Eindruck auf sie gemacht, denn eine der Finanzdamen wußte sofort meine Steuernummer, noch bevor ich sie ihr sagen konnte. Seitdem rätsele ich jedoch, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Mein Friedrichshainer Klarsichthüllen-Einkauf hatte nichts mit Steuererklärungen zu tun, sondern mit einem nachsylvestrigen intellektuellen Ordnungschaffen: Ich hatte einen Teil meines „Archivs“ – bestehend aus Artikelstapeln und Leitzordnern – das Jahr über vernachlässigt. Es wäre mir gar nicht weiter aufgefallen, aber dann besuchte ich meinen Freund Mildner und dessen Wohnungsnachbar Kuhlbrodt – und dachte: typische Männerwohnungen. Noch schlimmer sah es dann bei Olav Münzberg aus, den ich wegen eines Interviews aufsuchte: Er erstickte geradezu in Papieren, Heften und Zeitungen, ganze Kubikmeter waren damit zugemüllt. Gleichzeitig versicherte Olav mir glaubwürdig, Ordnung sei das Wichtigste.

Seine Wohnung wurde nur noch überboten von der des Gießener Professors Brinkmann, bei dem ich mal auf einer Geburtstagsfeier war – und da hatte er sogar, wie er uns versicherte, vorher aufgeräumt. Aber anscheinend nichts weggeworfen, denn wir bewegten uns bei ihm nur auf Trampelpfaden zwischen kinderhohen Papierstapeln. Neulich erfuhr ich aus Gießen: „Bei Brinkmann haben sie eingebrochen. Die Diebe brachen die Wohnungstür auf – zogen aber unverrichteter Dinge wieder ab, wahrscheinlich mit der Bemerkung: ,Scheiße, da ist uns jemand zuvorgekommen!‘“ Seitdem würde Brinkmann seine Sammelwut noch vehementer verteidigen.

So weit wollte ich es nicht kommen lassen. Auf der anderen Seite erfuhr ich von einem Ost-Betriebsrat: Früher hätte nur die Stasi Klarsichthüllen und Aktenwölfe (Schredder) gehabt, nach der Wende hätten sofort alle DDR- Betriebe angefangen, sich auch dieses Zeugs, wie er es nannte, zuzulegen.

Inzwischen hätte das solche Ausmaße angenommen, daß in den Ostbehörden – wo man selbst auf Kugelschreiber und Einwegfeuerzeuge höllisch achte – die Klarsichthüllen wie neues Volkseigentum behandelt würden, d.h. sie stellen keinen Wert mehr dar. Deswegen sind sie wohl widersinnigerweise – trotz Riesennachfrage – dort so billig. Helmut Höge