Kultur der Rotznasen

■ Tempo, das erste Papiertaschentuch Deutschlands, wird heute 70 Jahre alt

Berlin (taz) – Feine Damen im Orient schneuzten schon 200 nach Christus ins Tüchlein aus Papier, während in Deutschland erst in diesem Jahrhundert die bestickten Stoffquadrate aus den Hosen-und Handtaschen verschwanden. Heute vor 70 Jahren revolutionierte das erste „Einmaltaschentuch“ den Hygiene-Markt. Die Vereinigten Papierwerke meldeten ihre Marke „Tempo“ beim Berliner Reichspatentamt an – das erste Symbol der Wegwerf-Gesellschaft kam im selben Jahr auf den Markt.

„Kein Waschen mehr“ hieß es schon auf der ersten 18-Stück-Packung, womit der entscheidende Produktvorteil für die ersten Jahre formuliert war. Ende der dreißiger Jahre verließen über 400 Millionen der Zellstofftücher die Werke bei Nürnberg. Und ernstzunehmende Konkurrenten waren lange nicht in Sicht.

Mit Werbeetats von mehr als 10 Prozent des Umsatzes und Sprüchen vom eigens zum Tempo- Dichten engagierten Schriftsteller Eugen Roth hatten die Papierwerke lange die Nase vorn. Selbst Marketingfehlgriffe wie die Bezeichnung „Brechpack“ für eine 1953 auf den Markt gekommene Neuerung hinterließen keine Spuren in der Bilanz. Was nicht ankam – wie knallrote Tücher für die Blumenkinder der siebziger – wurde schnell wieder vom Markt genommen.

Erstmals abgebremst hat den Siegeszug der Blauweißen die wiederverschließbare Tüchertasche Softis vom Konkurrenten SCA Hygiene Papers. Den Wunsch von Verschnupften nach sauberen, nicht zerfaserten Tüchern hatte die alte Dame Tempo schlicht verschlafen. Softis haben mittlerweile einen Marktanteil von rund 20 Prozent, der Branchenprimus das Doppelte.

Chance und gleichzeitig Problem heute ist, daß Tempo vom Produktnamen zum Gattungsbegriff wurde. Wer was zum Schneuzen, Weinen, Wischen braucht, verlangt ein Tempo, auch wenn eins der No–name-Produkte gemeint ist. „Es geht darum, Tempo immer wieder in seiner Einzigartigkeit hervorzuheben“, erklärt Jörg Biebernik, Product Manager des jetztigen Inhabers Procter & Gamble. „Durchschnupfsicher“ ist das jüngte Lieblingswort der Kreativen im Konzern, und die um 30 Prozent höhere Reißfestigkeit soll jetzt auch der stärksten Rotznase standhalten. Obwohl es schon immer etwas teurer war, markenbewußt zu schneuzen, entschieden sich die Europäer auch im letzten Jahr 80 Milliarden mal für die „Nasenweichen“. Bettina Langer