Es gibt ihn doch, den Tschad

Ein Land wie aus einem vergangenen Jahrhundert. Ein Land, in dem es keine Eisenbahn, keine Autos und keine Bäume gibt. Der Tschad ist für Europäer ein weißer Fleck auf der Landkarte. N'Djamena, die Hauptstadt, ist eine Stadt wie ein Dorf. Irgendwo im Hinterhof einiger Hütten plärrt die rauchige Stimme von Papa Wemba aus einem altersschwachen Ghettoblaster. Tanzabend. Weiße Besucher sind hier eine spaßige Attraktion  ■ Von Anja Dilk

Man berichtet nicht über den Tschad. Niemand tut das. Ich kenne keinen, der auch nur einen angeheirateten Halbbruder von jemandem kennt, der schon mal im Tschad war. Ein riesiges Land, das nichts als Achselzucken hervorruft. Im Länder-Lexikon steht, daß es im Tschad keinen Tourismus gibt, keine Bäume, keine Straßen – nur ein paar Erdnüsse und ein bißchen verdammte Baumwolle. Die ohnehin schon wenigen Menschen haben noch weniger zu essen... „Den Tschad? Den gibt's überhaupt nicht. Beschwipste Kartographen haben sich den ausgedacht, und alle Welt macht den Schwindel mit“, schreibt Titanic-Kolumnist Max Goldt. Der Kerl hat keine Ahnung. Ich war da, im Tschad.

„Was wollen Sie hier?“ Der Mann hinter dem Tresen nimmt seinen Job ernst. Die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben, blättert er langsam unsere Pässe durch. „Wir besuchen einen Freund, der hier arbeitet. Wir machen Urlaub.“ „Urlaub?“, geiert der Sonnenbebrillte und gibt uns die Pässe zurück. „Schönen Aufenthalt denn.“ Kichernd winkt uns sein Kollege am Ausgang mit der Kalaschnikow durch.

Fünf Uhr morgens, N'Djamena. Die Hauptstadt des Tschad liegt noch im Morgenschlummer. Peter wartet mit dem Jeep vor dem Flughafen. Seit eineinhalb Jahren macht der 32jährige Agrarwissenschaftler Entwicklungshilfe im Süden des Landes. Zum Jahrestreffen des deutschen Entwicklungsdienstes (DED) ist er dieser Tage in die Hauptstadt gekommen.

Wir fahren in die Stadt. „Köpfchen runter“, sagt Peter. N'Djamena ist ein unsicheres Pflaster. Der Jeep wirbelt den roten Staub der Straße auf, weiße Flachbauten fliegen an uns vorbei, hochgewachsene Frauen in bunten Tüchern balancieren vollbepackte Körbe auf den Köpfen, Muslime mit weißen Kopfturbanen stehen am Straßenrand zum Gebet verneigt, an der Straßenecke hocken gelangweilt Militärs, die Kalaschnikow im Arm. „Wie weit ist es noch bis zum Zentrum?“ frage ich. „Das ist das Zentrum“, erwidert Peter.

Eine Stadt wie ein Dorf. Ein Land wie aus dem vergangenen Jahrhundert. In dem es keine Eisenbahnen gibt und kaum Autos. In dem sich staubige Wellblechpisten Straßen nennen, über die wenige Lastwagen rumpeln, ein paar Ochsenkarren, Fahrräder. Der Tschad, das 1,3 Millionen Quadratkilometerland im Herzen Afrikas, in dem Strom eine Rarität und Wohlstand ein Fremdwort ist. Nach UN-Kriterien ist der Tschad das viertärmste Land der Welt. Touristen gibt es hier nicht.

Viel hat die vergessene Erfindung beschwipster Kartographen scheinbar nicht zu bieten. In der Hauptstadt gibt es gerade mal ein paar Hotels und Restaurants und einige Kilometer asphaltierte Straßen, auf denen Präsident Idriss Deby, der sich 1990 an die Macht putschte, mit seinem schwarzen Schlitten standesgemäß spazierenfahren lassen kann. Und wie so viele afrikanische Staaten ächzt das Land noch heute unter der Last der kolonialen Vergangenheit: Zweihundert Ethnien leben in dieser Nation zusammen, noch immer gärt der Konflikt zwischen dem arabisch-muslimischen Norden, der den christlich-animististen Süden des Landes dominiert.

Der Weg nach Benoye, einem Zwölftausendeinwohnerort im Süden des Tschad, dauert mehrere Tage. 450 Kilometer durch den roten Staub der Lehmpisten, über knietiefe Schlaglöcher, vorbei an Fahrradfahrern und Fußgängern mit schweren Lasten und grimmig kontrollierenden Militärs, vorbei an karger Savanne und knorrigen Bäumen. In der Regenzeit verwandelt sich das Land in ein Meer grüner Sattheit. Unvorstellbar.

Nasara, nasara“, Weiße, Weiße, plärren Kinder, die uns entgegenlaufen, kaum hat der Jeep die ersten Hütten des Ortes erreicht. „Hallo, Patron, wie geht's?“ rufen die Leute, als wir durch Benoye fahren. Als Weißer, als Mann zudem, ist Peter eine wichtige Person hier. Immer wird der einzige bequeme Sessel für ihn herbeigeschafft. Beim Fußballspiel zerrt ihn sofort jemand in die erste Reihe, auf den Ehrenplatz neben den Honoratioren des Ortes. An seine Rolle als Patron mußte sich Peter erst mal gewöhnen: „Doch das muß man leben, wenn man hier akzeptiert sein will. Man steht damit auch unter ständiger Sozialkontrolle.“ Europäische Sozialromantik ist eine Kategorie, die hier nicht greift.

Peter arbeitet seit eineinhalb Jahren als Entwicklungshelfer in Benoye. Im Kampf gegen den Teufelskreis Überbevölkerung, Erosion, mangelnde Fruchtbarkeit, Hunger, berät Peter die Bauern bei Anbaumethoden, sensibilisiert für Probleme, erforscht neue Maßnahmen, bildet Einheimische aus, damit sie die neuen Ansätze in die Dörfer tragen. Keine leichte Aufgabe, denn der Bürgerkrieg in den siebziger und achtziger Jahren hat das Land um Jahre zurückgeworfen. Einst gab es in Benoye Wasserleitungen und sogar Telefon. Heute stehen die Pumpen verödet zwischen den staubigen Hütten. Es fehlt an Geld, um die alten Leitungen instand zu setzen, und die Regierung, wenn sie nicht in die eigene Tasche wirtschaftet, investiert bestenfalls in den Norden des Landes. Strom gab es in Benoye noch nie.

Sonntag abend. Am nächsten Tag ist Markt. Die ersten Laster, beladen mit Trauben von Menschen, Ziegen, Fahrrädern, Tischen, fahren auf den Dorfplatz. Brüllend werden die Waren in der Dunkelheit abgeladen. Unter den Bäumen hocken die Männer zum Palavern, die Frauen tragen Kalebassen mit Bili-Bili herbei, sämiges Hirsebier, das ein bißchen wie Federweißer schmeckt. Bei Vollmond, ist es, als hätte jemand eine Taschenlampe angeknipst, so fremd mutet das weiße Licht über dem Gelb der Feuer an, in diesem Land ohne Strom. Abends, wenn der Schein der Petroleumlampen vor den kleinen Verkaufsständen tanzt und umherlaufende Menschen huschenden Schatten gleichen, ist die raue Welt überzuckert vom weichen Licht der Nacht und den Klängen der Zoukousmusik, die aus den Ghettoblastern in den Kneipen dröhnt.

In der Alpha-Bar ist immer volles Haus, Partystimmung unter dem Strohdach irgendwo im Hinterhof einiger Hütten. Die rauchige Stimme von Papa Wemba plärrt mit der Kraft ausgelutschter Batterien aus einem altersschwachen Ghettoblaster. Auf winzigen Holzbänken hocken wir zwischen einigen Dutzend Benoyern, die uns unverkrampft anstarren. Weiße Besucher sind hier eine spaßige Attraktion. Auf den kniehohen Tischen reihen sich die Gala-Flaschen aneinander.

Gala, das Bier aus dem Tschad, gilt als das beste Afrikas. „Kneipen sind hier die wichtigsten sozialen Treffpunkte außerhalb der Kirche“, erzählt Peter. „Hier erfährt man viel über die Kultur, das moderne Leben im Tschad. Denn das Land ist alles andere als nur Hunger, Bürgerkrieg und Achselzucken.“

Da ist Naasson, der Maler, der im nahegelegenen Moundou die Wände von Tanzschuppen und Bars bemalt und Comics gegen Aids für Analphabeten zeichnet, um seine Malerei zu finanzieren. Da ist Noel, der im vergangenen Jahr seine erste Kassette mit selbstkomponierten Gitarrensongs aufgenommen hat und sich jetzt als Poet versuchen will. Und da ist Milisor, der Lehrer vom Gymnasium, der der maroden Schulbildung und einer Analphabetenquote von 75 Prozent mit seinem Privatcollege den Kampf angesagt hat.

„Hey, Louis, kannst du uns was zu essen organisieren?“ fragt Peter als der Wirt, drei Flaschen Gala in der Hand und eine flackernde Taschenlampe im Mund, die nächste Runde Bier durch das Dunkel heranbalanciert. Es gibt gegrilltes Ziegenfleisch und Salat in Nußöl auf einem großen Tablett ohne Besteck.

Mittlerweile ist es unter dem abgeschirmten Strohdach voll geworden. Zwei Dutzend Leute, Männer und Frauen, junge und ein paar alte, wiegen sich im Takt der Zoukousmusik. Tanz gehört dazu – ob in Benoye oder in N'Djamena, in Abeche oder, ganz besonders, in der Partystadt Moundou, wo sich Kneipe an Kneipe, Disco an Disco reiht, meist unter freiem Himmel, immer bunt bemalt und bewacht von Militärs mit der Kalaschnikow unterm Arm. Profi-DJs mischen dort knallige Rhythmen. Hartgesottene kippen sich Whiskey aus der Tüte in die Cola. Hip- Hop-Jungs, die aussehen wie ein frischer New-York-Import, mit tief in die Stirn gezogenen Wollmützen schlurfen über die Tanzfläche. Tanz ist Lebenselixier, Gelegenheit für einen Flirt, eben das einzige Vergnügen, das sich im Tschad bietet. In N'Djamena soll es in den Tanzschuppen kleine Zimmer geben. Für diskrete Stunden mit der frischen Eroberung. Afrikanischer Pragmatismus.

Tanzen wir“, frage ich meine Freundin und schon sind wir unterwegs. Alle bleiben stehen. Starren uns an. Bis eine junge Frau mit lauter Stimme und wachem Blick sich aus der Menge pellt und uns fragt „Tanzt ihr gern?“ Und wir tanzen zusammen bis spät in die Nacht.

Am nächsten Tag ist Markt in Benoye. Dann wird aus dem staubigen Ort ein Gewirr von bunten Stoffen, duftenden Gewürzen, knalligen Plastikschüsseln, von Hühnern, Teeblättern und Stapeln poppiger Plastelatschen. Unter den Strohdächern haben sich erschöpfte Einkäufer zu einem Glas süßem Tee niedergelassen, manche nehmen eine Kalebasse Bilibili und einen Hirsekloß, getunkt in Gemüsesoße dazu. Das ist die Standardmahlzeit hier, das einzige, das sich die meisten Menschen leisten können. Eine neue Hungersnot droht. Zum ersten mal seit vier Jahren. Die extremen Regenfälle Anfang des Jahres haben fast alle Keimlinge weggeschwemmt. Sprechen wird davon niemand außerhalb des Landes. Es sterben eben nur ein paar hundert, nicht Hundertausende Menschen wie im Sudan.

„Afrika, das ist ein Dreck“, flucht der Chef du Kanton, der die Gäste aus Europa mit der Nonchalance eines Weitgereisten empfängt. Der Chef du Kanton hat Grund zur Sorge. In diesen Tagen spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen den Nordisten und den Rebellen im Süden zu. Es geht um die Verteilung politischer und wirtschaftlicher Macht, nicht zuletzt um die Frage: Wer profitiert von der Ölförderung im Süden des Landes, die ausländische Investoren mit der Regierung planen? Da zählt die Demonstration militärischer Stärke. Mehr als hundert Menschen in und um Benoye werden von Soldaten der Regierung erschossen. Wie Basil, der Lehrer vom Gymnasium. In den unruhigen Tagen Ende März haben ihn die Militärs aus dem Klassenzimmer geholt, an die Wand gestellt und exekutiert.

Gleich vor dem Marktplatz liegt sein Haus, Wohnsitz und Dienststube in einem, das von einer Schutztruppe scharf bewacht wird. Im Hof stehen gepolsterte Sessel für die Gäste, eine Tochter des Chefs schafft Cola herbei. „Die Clans im Norden reißen alles an sich, wichtige Posten bekommt keiner aus dem Süden. Die Regierung will sich nur bereichern, von Partizipation keine Spur.“

Der Chef du Kanton nimmt kein Blatt vor den Mund. Trotz seines türkisen Gewandes und den pinken Schlappen wirkt er wie der Geschäftsführer eines großen europäischen Unternehmens, souverän und entschieden. Ihm macht niemand mehr etwas vor, seit 16 Jahren ist er in Benoye, davor schlug er sich als Abenteurer durch den Niger und Nigeria. Er würde gerne weg aus diesem kleinen Ort, doch das ist nicht in Sicht.

Und da ist natürlich noch seine Familie: sechs Frauen und so um die drei Dutzend Kinder. Obwohl die Region hier christlich ist, hat sich die Vielehe als tragende Säule der Gesellschaft erhalten. Mehrere Frauen sind Zeichen von Wohlstand und Erfolg. „Aber im Grunde trägt das System nicht mehr“, seufzt der Chef du Kanton. „Früher war es eine wirtschaftliche Frage, viele Frauen bedeuteten viele Arbeitskräfte. Aber heute gibt es nicht mehr genug Arbeit und Frauen und Kinder werden zu einer Belastung. Das ist nur noch Tradition. Da haben Sie es in Europa besser. Das ist ein friedlicher Kontinent.“