Der Club der schwarzen Ossis

Als Kinder wurden sie in die DDR geschickt, um zur Elite des neuen Namibia erzogen zu werden. 1990 kehrten sie zurück. Doch sie fanden sich in der alten Heimat nicht mehr zurecht. Jetzt treffen sie sich im Ossiclub und hoffen auf Besserung  ■ Von Stefan Klar

Namibias Heldenkinder sprechen deutsch. Sie wuchsen in der DDR auf, 11.000 Kilometer entfernt vom Land ihrer Eltern, in dem ein Bürgerkrieg gegen die südafrikanischen Besatzer wütete. Die Kinder sollten in der Fremde zu Kämpfern erzogen werden – und zur Elite eines freien Namibia. Betreuer der Befreiungsbewegung „South West African Peoples Organization“ (Swapo) hatten den Kleinen eingetrichtert, sie seien der Stolz Namibias. Doch nach der Rückkehr 1990 – das südafrikanische Land war inzwischen unabhängig und die Swapo Regierungspartei geworden – gerieten die Kinder in Vergessenheit. Und Heimat war für sie immer anderswo.

Patrick zum Beispiel arbeitet heute in einem Reisebüro in Windhuk. Der 25jährige erinnert sich gern an die elf Jahre, die er von 1979 bis 1990 in Ostdeutschland verbrachte. Die Zeit davor würde er am liebsten aus seinem Gedächtnis streichen: Vor allem den 4. Mai 1978, den er im Flüchtlingslager Cassinga in Angola erlebte. Dieser Tag, das „Massaker von Cassinga“, ist als dunkles Kapitel in die Geschichte Namibias eingegangen. Patrick, der damals fünf Jahre alt war, hörte nur das Pfeifen und Donnern der südafrikanischen Düsenjäger und die Detonation von Sprengkörpern. Druckwellen und Splitter verwandelten das Camp binnen kürzester Zeit in ein Leichenschauhaus; rund sechshundert Namibier, die meisten Frauen und Kinder, wurden zerfetzt oder verbrannten in Hütten und Zelten.

Wenige Monate nach dem Massaker setzten Swapo-Kämpfer den kleinen Patrick in ein Flugzeug, das ihn nach Ost- Berlin bringen sollte. Der Bürgerkrieg hatte viele namibische Kinder aus ihrer Heimat vertrieben. Kommunistische Staaten, darunter Kuba und die Tschechoslowakei, nahmen die jungen Flüchtlinge auf: 428 von ihnen fanden Zuflucht in der DDR. Die ersten kamen wie Patrick nach dem Massaker von Cassinga, die restlichen in den achtziger Jahren. Viele waren Halb- oder Vollwaisen. Über die Motivation der Befreiungskämpfer, die Kinder in kommunistische Länder zu bringen, gehen die Meinungen auseinander: Die Swapo ließ verkünden, man habe die Kinder vor dem Bürgerkrieg gerettet. Menschenrechtsorganisationen sagen, sie wurden verschleppt.

Patrick und einige Reisegenossen wurden nach Mecklenburg verfrachtet. Deutsche Lehrer und namibische Erzieher betreuten die Gäste aus Afrika, erst im Kinderheim „Schloß Bellin“, dann in der Grundschule Zehna. Später kamen sie in die „Schule der Freundschaft“ in Staßfurt nahe Magdeburg. Bald vergaßen die Kinder ihre Muttersprache. Die Lehrer seien fürsorglich gewesen, und im Unterricht habe man viel diskutiert, erzählt Patrick.

Seine Erinnerungen an die militärischen Übungen, die die Kinder auch zu absolvieren hatten, sind zwiespältig: Bei zwei Manövern im Jahr durften die afrikanischen Knirpse Handgranatenattrappen werfen; sie lernten, wie man Landkarten liest, und sie mußten marschieren. Stundenlang. Wenn sie nicht gehorchten, setzte es Prügel. „Die Erzieher schlugen uns mit allem, was sie in die Hände bekamen“, sagt Patrick. Manchmal, wenn er heute durchs Zentrum Windhuks streift, laufen ihm die Peiniger von damals über den Weg. Ein kurzer Gruß im Vorübergehen, das ist alles.

Die Heldenkinder treffen sich in der Bismarckstraße von Windhuk. Im Lesesaal der Namibisch-Deutschen Stiftung ist Dienstag nachmittags Ossiclub. Ein Schild am Eingang zeigt es an. Sozialarbeiterin Hallo Hopf hat Kontakt zu hundertfünfzig DDR-Rückkehrern. Professionelle Hilfe gibt es erst, seit 1994 die „Evangelischen Dienste in Übersee“ die Not der Jugendlichen erkannten. Seither spielt Hallo Hopf Mutter, schlüpft in die Rolle der Lebens- und Berufsberaterin. Bis Ende 1996 bezahlte die Bundesrepublik Deutschland, seit 1997 kommt das Geld von „Terre des Hommes“. Nächstes Jahr wird die Stelle gestrichen.

Heute haben sich hier Uno und Selma nach vielen Jahren wiedergetroffen. Die Mädchen gehörten in der DDR zur Gruppe 8. Sie ersetzte ihnen die Familie, die sie nie hatten. Bald nach der Rückkehr im August 1990 haben sich die Freundinnen aus den Augen verloren. Uno blieb in Windhuk, Selma fuhr in die Einsamkeit des Ovambolandes im hohen Norden Namibias.

Im August 1990 kehrten die Kinder der Gruppe 8 gerade aus einem Zeltlager zurück, als man sie im Speisesaal ihrer Schule zusammentrommelte. Die Erzieher eröffneten ihnen, daß sie nach Namibia gebracht würden. Die Kinder bekamen es mit der Angst zu tun. Besonders Uno. Namibia war ihr völlig fremd. Sie war in einem Flüchtlingslager in Sambia zur Welt gekommen. Die Erwachsenen versprachen den Verängstigten, sie dürften zusammenbleiben.

Namibia hatte sich nach 24 Jahren Kampf von Südafrika befreit; die DDR brach zusammen – die jungen Afrikaner wurde zum zweitenmal Spielball der Geschichte. Von der Kindheit blieben zehn Kilo Gepäck.

In einer Schule im Windhuker Schwarzenghetto Katutura warteten die DDR- Namibier darauf, von Verwandten oder Adoptiveltern abgeholt zu werden. Hundert Kinder warteten vergebens. Einige mußten erfahren, daß ihre Eltern nicht mehr am Leben waren, andere Familien wollten nichts von den verlorenen Kindern wissen, weil sie sich ein zusätzliches Kind nicht leisten konnten.

Uno war zwölf Jahre alt, als sie ihre Verwandten zum erstenmal sah. Es war eine Begrüßung ohne Worte. Uno sprach kein Oshivambo, die Verwandtschaft kein Deutsch. Uno kennt ihren Vater nicht. Er starb im Kampf, als sie noch ein Baby war. Die Mutter wurde 1979 von der Swapo zum Studium in die Sowjetunion geschickt – da war Uno zwei Jahre alt. Mutter und Kind sind sich bis heute fremd geblieben. Uno kam in ein Heim, lief davon, fand Unterschlupf bei Freunden oder schlief im Park. Sie lebte auf den Straßen Windhuks und ging aber dennoch zur Schule. Andere haben es nicht geschafft, fanden sich nicht zurecht, prostituierten sich.

Die Ossikinder sprachen, dachten und fühlten deutsch – von einem Tag auf den anderen sollten sie Namibier werden. Lehrer und Schüler lebten im gleichen Land, aber in unterschiedlichen Welten. Die Neuankömmlinge bekamen einen Stempel aufgedrückt. Darauf stand: arrogant, frech und widerspenstig. Die Unverstandenen betäubten den Schmerz mit Alkohol und Drogen. Viele flüchteten aus dem Heim oder dem neuen Zuhause, sechs von ihnen nahmen sich das Leben. Viele Mädchen wurden schwanger und rückten damit weiter ins Abseits: Deutsch sein in schwarzer Haut und schwanger ohne Trauschein – ein doppeltes Stigma in Namibia. Das Abtreibungsverbot trieb einige Schwangere in die Hände von Kurpfuschern.

Selma wurde von ihrer Mutter in Katutura abgeholt. In aller Frühe verließen sie Windhuk Richtung Norden, fuhren endlos wie mit dem Lineal gezogene Straßen entlang. Sie haben die Abzweigung zum Waterberg-Plateau passiert, wo die deutschen Kolonialherren 1904 rund 50.000 Hereros niedermetzelten. Mutter und Tochter ließen den Etosha-Nationalpark hinter sich, Namibias größte Touristenattraktion. Die Fahrt endete spät am Abend wenige Kilometer vor der angolanischen Grenze: Zwei Hütten standen da und einige Bäume, vier Stunden fuhr man mit dem Auto zur nächsten Siedlung. Früh morgens aufstehen, Wasser schleppen, Hirse stampfen, den Garten harken, früh abends ins Bett. Selma wünschte, die Schufterei wäre nur ein Traum. Sie wünschte, sie würde aufwachen in Staßfurt, und die Rückkehr nach Namibia wäre nur ein böser Traum.

Als sie im namibischen Radio hörte, daß für die Ossikinder Englischkurse angeboten werden, verließ sie ihre Familie. Sie landete schließlich an der deutschen Schule in Swakopmund. Eine sehr deutsche Stadt am Rande der Dünen der Namib: Werbetafeln in deutscher Sprache, in vielen Läden wird man mit einem „Guten Tag“ begrüßt, Denkmäler erinnern an Kaiser Wilhelms Zeiten. Als Selma zum erstenmal in ihre Klasse kam, waren da nur zwei Schwarze außer ihr. Selma merkte genau, wie sich alle zierten, neben ihr zu sitzen. Sie blieb Außenseiterin. Immerhin hatte sie aufgrund ihrer perfekten Deutschkenntnisse gleich nach dem Abitur eine Stelle in der Anzeigenabteilung der Allgemeinen Zeitung in Windhuk bekommen.

Nach einer Wohnung mußte sie länger suchen. Einmal dachte sie, das Richtige gefunden zu haben: Die Vermieter überhäuften die deutschsprechende Anruferin mit Freundlichkeiten. Als sich bei der Besichtigung die Türe öffnete, verflog die Begeisterung der Hausherren. Obwohl Selma deutsch erzogen wurde, hat sie sich nie als Teil der deutschen Gemeinde Namibias gefühlt. Heimat ist irgendwo, vielleicht in der Vergangenheit.

Patrick hat sich in Deutschland um eine Lehrstelle beworben. Uno will einige Semester an einer deutschen Universität studieren. Selma hatte sogar einen Ausbildungsplatz in Deutschland. Doch ihr Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung für die Dauer der Lehre wurde abgelehnt. Begründung: Lehrstellen würden für Deutsche benötigt. Jetzt will sie sich bei der Lufthansa in Windhuk bewerben.

Einige Heldenkinder haben den Sprung nach Deutschland geschafft. Hallo Hopf hofft, daß sich ihre Zöglinge nach ihrer erneuten Rückkehr in Namibia selbständig machen werden. Die Türen der Führungsetagen der meisten Betriebe sind für Schwarze immer noch verschlossen.

Uno studiert seit Mitte Februar Jura in Windhuk. Sie lebt jetzt wieder bei ihrer Mutter und ist kämpferischer denn je. Bei einem Spaziergang auf der Independence Avenue deutet sie mit dem Zeigefinger auf eine Anhöhe und ruft: „Einspruch!“ In Rot und Ocker thront Namibias oberster Gerichtshof auf einem Hügel. Während Uno weiter die ehemalige Kaiserstraße entlang geht, schwört sie, sie werde als Anwältin für Gerechtigkeit kämpfen. Seit acht Jahren ist dies die Straße der Unabhängigkeit, seit fast acht Jahren ist Uno in Namibia. Ihre Unabhängigkeit hat noch nicht begonnen.

Stefan Klar, 33, lebt als freier Journalist in München und schreibt über Afrika, Umweltthemen und Geschichte.