Voll abgetakelter Zartheit

In Wien wurde „Die Eingeborene“ von Franz Xaver Kroetz uraufgeführt. Achim Freyer erkannte das Büchnersche darin besser, als Kroetz es formulierte. Schön.  ■ Von Cornelia Niedermeier

Franz Xaver Kroetz hat ein neues Stück geschrieben. Sein 50+x-tes, so genau weiß wohl niemand mehr, wie viele es inzwischen sind. Anders formuliert: Kroetz hat wieder an seinem Stück geschrieben, denn wie viele Besessene variiert er sein Lebensthema in unzählbaren Variationen. Irmi, „Die Eingeborene“, ist eine ungefragt Hineingeborene in dieses Leben, eine Schwester der Beppi aus „Stallerhof“, der Maria Magdalena und all der anderen: Kind der erzkatholischen bayerischen Provinz, von brünstigen Männern frühzeitig geschwängert, verlassen selbst vom obersten aller Patriarchen, dem Mann im Himmel.

In drei Akten, „Glaube“, „Liebe“, „Hoffnung“, führt Kroetz ihr Männer zu, deren Existenzzentrum deutlich unterhalb des Kopfes angesiedelt ist: Kurt, den sich bekreuzigenden Sünder mit dem Kehlkopfkrebs, Toni, den aids- kranken Stricher, und Hugo, genannt der rote Windel-Hugo, den geizigen Sozialdemokraten mit der Darmkrebserkrankung. Ein echter Kroetz. Hier steht er in dieser verkommenen Welt und kann nicht anders. Was ihn ziemlich sympathisch macht. Während Handke und Strauß sich längst in immer ästhetizistischer verschmockte Kunstwelten zurückziehen, kämpft Kroetz mit der geballten Wucht seiner schnörkellosen Sprache nach wie vor für jene, denen die eigene Kraft zur Artikulation verwehrt blieb.

Nur eines hat sich geändert. Kroetz, der Ziehsohn Marie Luise Fleißers und Ödön von Horváths, ist seit drei Jahren von Büchner infiziert. Sein Woyzeck-Kampf hat Spuren hinterlassen. Die Jahrmarktsbudensicht der Welt schlägt sich zumindest auf den ersten und letzten Seiten der „Eingeborenen“ nieder. „Ein Stück für großes Kasperltheater“ nennt er das Stück, in dem die Männer alle Kasperln sind und Irmi die „gesunde Gretel“. Er wünscht sich Krokodile, Frösche und Vögel als allegorische Puppen-Personifikationen von Haß, Dummheit und Geilheit. Wie gesagt, auf den ersten und letzten Seiten. Dazwischen herrscht reiner Kroetz, und der Autor scheint seine Grundidee selbst ganz vergessen zu haben.

Nicht aber Achim Freyer, der „Die Eingeborene“ jetzt am Wiener Akademietheater zur Uraufführung brachte. Auch Freyer kennt „Woyzeck“. Vor gut zehn Jahren hat er ihn, ebenfalls in Wien, in einer stilisierten Form inszeniert, die eine der aufregendsten Arbeiten der frühen „Ära Peymann“ war. Freyer, der große Puppenspieler unter den Regisseuren, nimmt Kroetz beim Wort, genauer als dem vielleicht lieb ist.

Freyer spielt Kasperltheater, in einer Konsequenz, wie man sie noch selten sehen konnte. Vor den gesamten Bühnenraum zimmerte er eine riesige Grand-Guignol- Bühne, mit einem rechteckigen Guckloch, in dem seine Menschenpuppen gerade Platz finden. Statt Raumtiefe begrenzt ein schwarzer Samtvorhang den Hintergrund, vor dem ein erster Kasperl das große Publikum mit dem altgewohnten „Seid ihr alle da?“ begrüßt, bevor ihn ein Polizist mit schwarzem Knüppel in die Versenkung prügelt.

Drei abgetakelte Moritatensänger spielen vor der Bühne zur Hammondorgel auf und stellen in der Manier von Budenwerbern die Mitwirkenden vor: die drei Kasperln, die Irmi-Gretel, das Krokodil mit dem Klappmaul. Überdimensionierte kahle Köpfe auf ihren schmächtigen Körpern, spielen die Puppen das grause Kroetzsche Kasperlspiel vom armen Mädchen und den bösen Männern. Und das Wunder: Es funktioniert – und wie.

Freyer spielt „Woyzeck“ mit Kroetz: Er verläßt den bayerischen Realismus und erhebt in der Stilisierung das Stück zur poetischen Kasperliade über die verkehrte Welt. Nur wenige rührend selbstgebastelte Requisiten bewohnen die Kasperlwelt, der Rest ist Spiel. Erläutert von dem Moritatenmusikern, die alle Kroetzschen Regieanweisungen vortragen, mit Pauken- und Hammondorgeltönen jahrmarktsbudenmäßig untermalt. Die Burgmimen, reduziert auf Sprache und Arme in ihren ausgepolsterten Kostümen von Maria- Elena Amos, zaubern die traurige Poesie aus Kroetz' einfacher Geschichte heraus.

Allen voran Maria Happel als Irmi, mit klarer Stimme und schmetterlingskleinen Händen. Oder Torsten (Steffen Schroeder), ihr stummes Kind mit dem weißen Wasserkopf, in dem verloren zwei Augenhöhlen in die schwarze Welt starren. Anfangs derb-lustig, gewinnt der Abend zunehmend eine Stille und schwebende, musikalische Zartheit, die keiner, am wenigsten wohl Kroetz selbst, so erwartet hätte.

„Meine Herren! Sehen Sie die Kreatur, wie sie Gott gemacht, nix, gar nix.“ Die Welt ist ein Kasperlspiel und Freyer ihr zaubernder Puppenspieler. Zum Schlußapplaus erscheint er selbst, den Autor in der Hand – als hölzerne Puppe. Der Ur-Kroetz blieb fern – und war doch mit Freyers Hilfe dem verehrten Büchner näher als jemals zuvor. Ein Glücksfall für Wien. Der erste in einer trüben Saison.