Bäume oder Deich

An der Oder sollen 1.000 Bäume gerodet werden. Laut Gesetz gehören sie nicht auf einen Deich, obwohl sie schützen  ■ Von Robin Alexander

Berlin (taz) – 250 Millionen Mark ist eine Menge Geld. Mit dieser Summe finanzieren das Land Brandenburg, der Bund und die EU das „Oderprogramm“. Bis 2002 sollen 167 Kilometer Deich an der deutschen Ostgrenze erneuert und die deichnahe Infrastruktur verbessert werden. Eine Katastrophe wie beim Hochwasser im Sommer 1997 soll es nie wieder geben.

Wer sollte sich mehr darüber freuen als die Bewohner von Reitwein, das nur unweit der Oder liegt? Aber die Bewohner der Brandenburger Kleinstadt warten mit Bangen auf die Sanierung des Deichabschnitts in ihrer Nähe. „Hier sollen Bäume gerodet werden, die 150 Jahre alt sind. Das versteht niemand“, sagt Karl-Friederich Tietz, Bürgermeister von Reitwein. Die Reitweiner haben nichts gegen einen stärkeren Deich und den Einbau eines effizienten Sickerfilters aus drei Kiesschichten. Wohl aber haben sie etwas gegen die Rodung von 1.000 Alleebäumen – Eichen, Eschen, Ahorn, Birken und Weiden – am Deich zwischen den Orten Kietz und Lebus.

Matthias Freude, Präsident des Landesumweltamtes, verweist auf die Vorschriften: „Nach der DIN- Norm 19712 haben Bäume am Deich nichts zu suchen.“ Die Wurzeln könnten Schäden am Deich verursachen, ein Sturm könnte einzelne Bäume entwurzeln und damit eine Lücke in den Deich reißen. Im Krisenfall könnte kein Hubschrauber Sandsäcke auf den Deich werfen.

Die Norm wurde erst im vergangenen Jahr verschärft. Doch Freude, der sich selbst als Naturschützer versteht, argumentiert nicht nur formal. „Spätestens wenn die Weiden in 30 bis 40 Jahren absterben, müssen wir sie sowieso entfernen.“ Die Wurzeln ziehen sich durch den gesamten Deich. Er habe bereits Qualmwasser auf dem Deich gesichtet – ein Hinweis, daß Erdreich aus dem Deichinneren ausgespült wird. Dies führt Freude darauf zurück, daß Wurzeln im Deich verfaulen.

Das dichte Wurzelwerk der Bäume ist unbestritten. Der Reitweiner Bürgermeister hält es jedoch nicht für schädlich, im Gegenteil: „Ein Baum verdunstet im Sommer tausend Liter Wasser. Unsere Alleebäume entziehen dieses Wasser dem Deich und schützen ihn so bei Hochwasser vor dem Durchweichen.“ Würden die Bäume gerodet, stiege die Anfälligkeit des Deiches bei einer Flut, glaubt Tietz. Sein Argument verdeutlicht er Besuchern gern mit einem Spaziergang an die einzige Stelle, wo die Baumreihen zwischen Kietz und Lebus unterbrochen sind. Seit dem Krieg hat die Allee hier eine Lücke, und hier riß 1997 der Deich der Länge nach.

Freude mag das nicht gelten lassen. Mit Hochwasser- oder Naturschutz könne man nicht ernstlich gegen die Baumrodung argumentieren. „Im Kern geht es um etwas anderes: Diese Bäume sind heimatbildend.“ Schon Theodor Fontane erwähnt die Besonderheit der baumbewachsenen Deiche an der Oder. Die Bäume bieten nicht nur Bienen, Kiebitzen, Graureihern, Störchen und Wildgänsen Heimat, sondern verbergen auch den „Oderweg“. Der verläuft zwischen Deichkrone und Böschung und ist eine wundervolle Strecke für Fußgänger und Radfahrer.

Noch ist die Entscheidung nicht gefallen. Im Herbst werde die Vorplanung abgeschlossen, das tatsächliche Abholzen der Bäume steht erst im nächsten Winter an, sagt Freude. Die Landesregierung will sich des Problems nicht annehmen. Eine Begehung des Deichabschnitts durch Landesumweltminister Eberhard Henne (SPD) sei nicht geplant, sagt sein Sprecher.

So bleiben, wie er ist, kann der Deichabschnitt aber auch nicht. „Wir hätten dann alle anderen Oderdeiche ertüchtigt“, sagt Freude, „allein dieser Abschnitt wäre niedriger.“ Und der Riesenetat, mit dem die Behörden die Oderdeiche flutfest machen dürfen, wäre nicht ausgenutzt. 250 Millionen Mark sind eben eine Menge Geld.