Zwischen Mr. Bean und Beckett

■ Urs Dietrich zeigte Soloabend beim Bremer Tanzherbst

Ein armer Mensch, der da eine Stunde lang auf der Bühne zappelt, weder mit dem zu Rande kommt, was er gerade machen will, noch in der Lage ist, seine Körperteile harmonisch in Bewegung zu setzen. Meist muß er über einen Willensakt gesteuert seinem Bein oder seinem Arm mit Gewalt mitteilen, was diese jetzt zu tun haben. Selbstredend sieht das komisch aus – bei aller Tragik des Ereignisses: wenn er sich selbst an den Hosenträgern hochzieht, in atemberaubender Schnelle seine Beine sortiert oder auch mit der einen Hand seine andere straft, weil die sich selbständig machen wollte.

Der Schweizer Tänzer und Choreograph Urs Dietrich zeichnet unter dem Titel „An der Grenze des Tages“ einen Menschen zwischen Mr. Bean und den späten Figuren Samuel Becketts oder auch zwischen Woody Allen und Charlie Chaplin, wie der Pressetext sagt, einen sich selbst entfremdeten Spießer mit dicker Hornbrille, schmierigem Haar und fatal grauen Hosen.

Hauptsächlich zu den fragmentarischen Klängen von Luigi Nonos Diotima-Streichquartett, aber auch zu der gehetzten Musik von Henryk Gorécki gestaltet Dietrich seinen so zeitgemäßen Typen, der sich immer wieder rausreißt aus der aussichtslosen Depression, um unmittelbar wieder in sie zu verfallen. Manchmal präsentiert er rasende, zerstörerische Aggressionen, die zeigen: Noch ist nicht alles verloren. Manchmal wird er so still und passiv, daß man nach der Psychiatrie rufen möchte; die aber hilft ganz sicher nicht.

Denn Urs Dietrich läßt keinen Zweifel daran, daß die „Verücktheit“ seines Menschen sozusagen umweltbedingt ist. Der Panik in ihm wird er nicht Herr – ist er doch der Dialektik von Erinnern und Vergessen mit seinem Körper ausgesetzt. Jede Bewegung, in die er hineingerät, ist letztendlich eine fremde: tänzerisch, pantomimisch, schauspielerisch meisterhaft, wie Dietrich seine Grenzfigur findet. „Hallo?!“ ruft er verloren in den Raum – da ist niemand. Mit einem akustisch verstärkten Stetoskop hört er sein Herz ab. Was er wohl lieber hätte: daß es noch schlägt oder daß es endlich stillhält? Urs Dietrich verweigert in seiner zweiten Solochoreographie jede Eindeutigkeit. Das macht sie ungemein spannend. Die Doppeldeutigkeit des Titels entspricht dem: „An der Grenze des Tages“ ist die Zeit, wo eine konkrete Figur mit einem konkreten Plattenspieler nach Hause kommt – und wo jede Existenz endet.

Dramatischer Höhepunkt ist sicher, als sich Dietrich – schaumtreibend – mit einer aggressiven Fantasiesprache ans Publikum und sich selbst wendet, als wolle er sagen: Jetzt aber! Auch das geht schief; es bleibt, das gelesene Papier aufzufressen. Ein großer, in jeder Hinsicht virtuoser Abend, skurril und tragisch, witzig und beklemmend, poetisch und polternd, den wir uns auf dem Spielplan des Bremer Theaters wünschen. Ute Ute Schalz-Laurenze