Türkisch den Türken

Der Staat Atatürks indoktriniere seine Auswanderer noch in Deutschland, geht das Gerücht. Tatsächlich bestimmen die Bundesländer den Unterricht, meint  ■ Christoph Schroeder

DDer türkische Staat, so geht ein medial gut verbreitetes Gerücht, gestaltet den Türkischunterricht an den deutschen Schulen im Alleingang. Er beschickt die Schulen mit Lehrmitteln, und auch die Lehrer, die ihren Eid auf die türkische Verfassung geschworen haben, kommen vom Bosporus. Die deutsch-türkischen Schüler, meint etwa der Spiegel, „geraten in die Zwickmühle zwischen den westlichen Werten ihrer Umwelt und den nationalistischen ihrer angeblichen Heimat“. Kurz: Die Schüler werden indoktriniert.

Zunächst zu den Zahlen: Das Magazin behauptet, 193.343 türkische Kinder nähmen in Deutschland am Unterricht in ihrer Muttersprache teil. Insgesamt sollen 497 türkische Lehrer für den Unterricht abgestellt sein. Dem Spiegel entgehen dabei rund 1.700 Lehrer, die in den Ländern Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz als Landesangestellte 122.966 türkische Schüler unterrichten, die den türkischen „Herkunftssprachenunterricht“ – der Begriff hat sich wegen des viel unklareren „Muttersprache“ durchgesetzt – in den Ländern besuchen.

Der weitaus überwiegende Teil der türkischen Schüler lernt also nicht unter der Ägide der türkischen Konsulate. Sie tun das vielmehr in Bundesländern, wo das jeweilige Schul-, Bildungs- oder Kultusministerium zuständig ist – zuständig als Dienstherr für die Türkischlehrer, zuständig für die Entwicklung der Richtlinien und Lehrpläne des Türkischunterrichts, zuständig und verantwortlich selbstverständlich auch für die Auswahl der Lehrmaterialien.

Wer sind diese Lehrer, und wie sieht ihr Türkischunterricht aus? Die Lehrer sind türkische Muttersprachler, zum Teil türkische, zum Teil deutsche Staatsbürger. Das Lehrmaterial, das in ihrem Unterricht Anwendung findet, ist von entsprechenden Schulbuchkommissionen ausgewählt; es gibt in Deutschland zwei Verlage, Anadolu/Orta Dogu in Hückelhoven und Cornelsen/Önel in Köln/Berlin, die für diesen Markt produzieren – und deren Bücher übrigens auch für den türkischen Herkunftssprachenunterricht in anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden, Schweden und Dänemark eingesetzt werden.

In der Regel ist der Türkischunterricht, wie jeder andere Herkunftssprachenunterricht auch, eins der nicht benoteten „Ergänzungsfächer“ im schulischen Angebot. Er wird immer dann eingerichtet, wenn eine bestimmte Zahl von Schülern dafür angemeldet ist. Im Bundesdurchschnitt entscheidet sich etwa die Hälfte aller Schüler mit türkischer Herkunftssprache für den Türkischunterricht. In der Mittelstufe ist es darüber hinaus häufig möglich, Türkisch anstelle einer zweiten Pflichtfremdsprache oder als Wahlpflichtfach zu wählen. In der „Modellversuchphase“ ist das Fach Türkisch im Kursangebot der gymnasialen Oberstufe.

Türkisch lernen, um Deutsch zu verstehen

Natürlich ist das alles nicht frei von Problemen. Die Türkischlehrer fühlen sich oft zurückgesetzt, da sie zwei bis drei Gehaltsstufen schlechter bezahlt werden als ihre Kollegen. Oft auch klagen sie darüber, daß sie aus den Kollegien ausgegrenzt sind – die deutschen Kollegen hingegen bemängeln ihre ungenügenden Deutschkenntnisse und ihre geringe Offenheit für kooperative pädagogische Ansätze.

Doch allein die Tatsache, daß ihre Herkunftssprache einen schulischen „Wert“ hat, bietet den türkischen Schülern eine Identifikationsmöglichkeit mit ihrer Schule. Sie lernen, ihre Zweisprachigkeit nicht als Benachteiligung, sondern als Bereicherung zu erfahren. Das motiviert. Vor allem aber lebt der vielbeschworene interkulturelle Lernprozeß von den Fähigkeiten der jungen Menschen, die eigene Kultur und Sprache in der Minderheitenposition zu der des Herkunftslandes und der Mehrheitsgesellschaft in Beziehung zu setzen – dumpfer Nationalismus rührt eher aus Unwissenheit und der Erfahrung von Ausgrenzung.

Auch didaktisch läßt sich der Unterricht gut begründen: Man geht davon aus, daß der Ausbau einer Zweitsprache – also hier Deutsch – ohne eine parallele Förderung der Muttersprache dort an Grenzen stößt, wo das Verständnis komplexerer Texte und die Produktion differenzierter Textsorten gefragt ist – in der schulischen Mittel- und Oberstufe also.

In einer immer kleiner werdenden Welt ist es im übrigen allemal opportun, die Mehrsprachigkeit zu fördern: Türkisch ist eine der 20 meistgesprochenen Sprachen auf der Welt (von immerhin rund 4.500 Sprachen), gemeinsam mit Englisch ersetzt es langsam Russisch als Handelssprache im Verkehr mit den neugegründeten turksprachigen Republiken in Zentralasien.

Der Türkischunterricht für Menschen, die hierbleiben und trotzdem ihre „Muttersprache“ lernen wollen, hat sich noch nicht durchgesetzt, keine Frage. Aber er ist auf einem viel besseren Weg, als mancher glaubt.