Was WIR alles nicht kennen!

■ Zum 2. Geburtstag der neuen Glocke kam immerhin Bel-canto-Star Lucia Alberti. Doch einige Träume von Glockechefin Ilona Schmiel sind noch offen

Eathan Freeman hatte panische Angst, ohne Mikrophone zu singen. Er tat es dann der Stimmung wegen doch, und es klappte wunderbar, das Lied des Hauptdarstellers Jekyll und dessen zweitem Ich, Hyde: „Dies ist die Stunde, jetzt ist es Zeit“. Knapp zwei Wochen vor der heiß erwarteten Premiere des Musicals, das am Broadway seit Anfang 1997 immer ausverkauft läuft, nahm die Geschäftsführerin der Glocke Ilona Schmiel den zweijährigen Geburtstag des neu-alten Konzerthauses – des „schönsten im norddeutschen Raum“ – zum Anlaß, um auch einen Presseempfang für „Jekyll& Hyde“ zu organisieren. Eine Kooperation? „Nein“, sagt Ilona Schmiel, „ich möchte nur dokumentieren, daß ich nicht gegen das Musical bin“.

Zahllos sind die Spekulationen über die Laufzeit dieser Fast-Milliardeninvestition. Der Hamburger Freizeitforscher Horst Opaschowski rühmt das Musical – zusammen mit kulturell so wichtigen Sachen wie Space-Parks – „Kathedrale“ des 20. Jahrhunderts. Über diese Begriffsverwirrung wollen wir hier nicht streiten. Wenn alles vorbei ist, haben wir ein schönes Theater am Richtweg. „Kunst & Kultur sind wesentliche Bereiche des täglichen Lebens“, meinte der Präsident der Handelskammer B. Hockemeyer, „und dazu zählt auch die gehobene Unterhaltung!“ Und nun habe endlich „der Pessimismus ein Ende“.

Etwas skeptischer ist da noch Ilona Schmiel; muß es sein. Denn nach ihrem Amtsantritt vor genau einem Jahr – ein Jahr zuvor hatte Andreas Schulz die neue Glocke eröffnet – freut sie sich über vieles in Bremen, vieles aber auch wundert sie. Mit Zulauf und Auslastung ist sie zufrieden, das kann mit 200.000 BesucherInnen und dreihundert Veranstaltungen pro Jahr – was einer Auslastung von 70 % entspricht – nicht mehr gesteigert werden. Über den staatlichen Zuschuß von 4.25 Mark pro BesucherIn wird noch zu reden sein, das reicht nicht auf Dauer. Ihr Konzept – Glocke ins Publikum und in vielfältige Kooperation – geht auf, „aber viel zu langsam. Ich habe mir das alles schneller vorgestellt“. Beschwerdebriefe beantwortet sie alle persönlich. Was Ilona Schmiel in Bremen noch vermißt, ist ein „internationales Denken“: „Die berühmtesten Leute kennen die hier nicht“. Andererseits ist sie positiv überrascht über die Experimentierfreudigkeit des Bremer Publikums.

Es ist freilich schwer, diesem Haus mit seiner Mischung aus Vermietungs- und Eigenveranstaltungs-geschäft ein einheitliches Gesicht zu geben: „Glocke special“ mit seinen populären Abenden finanziert eben „Glocke vocal“, wo auch schon mal 10.000 Mark minus drin ist. „Aber das will ich erstens künstlerisch, und zweitens halte ich das auch langfristig für Werbung. Christine Schäfer wird in New York erzählen, wie's in Bremen war“. Neu aufgebaut hat sie die „Familienkonzerte“, deren erster Abend 800 BesucherInnen brachte, und den Zyklus des NDR Sinfonie Orchesters. Noch nicht umgesetzt aber ist ihre Herzensplanung, ein Nachwuchsforum, „die Kluft zwischen den besten Nachwuchskünstlern und der großen Szene will ich nicht akzeptieren. Aber im Moment sehe ich den Markt nicht dafür“. Zum zweijährigen Geburtstag spendierte Ilona Schmiel sich und uns den Arienabend mit Lucia Aliberti: die italienische Bel Canto-Sängerin mit atemberaubenden Koloraturen brachte einen ausverkauften Saal bei Verdis „La Traviata“ ins rhythmische Mitklatschen. Was will man mehr.

Ute Schalz-Laurenze