Sex im Systemvergleich

Im Schatten des großen amerikanischen Staatsdramas diskutierten amerikanische und europäische Jugendliche mit Wissenschaftlern und Journalisten über Sex  ■ Von Peter Tautfest

Was ist das? Im Sitzungssaal des Senatsgbäudes, vor dessen eichengetäfelten Wänden Stelltafeln mit Penissen und Präservativen, Paaren und Umarmungen stehen, tagen 300 Leute und debattieren über Sex? Nein, mit Impeachment hat diese Veranstaltung nichts zu tun. Während sich 300 Meter weiter das Amtsenthebungsverfahren dahinschleppt, trafen sich im Everett-Dirksen-Gebäude, wo die Ausschüsse des amerikanischen Senats ihre Sitzungssäle haben, Wissenschaftler, Journalisten und Jugendliche, um über Sexualität in Amerika und Europa zu diskutieren – eine Veranstaltung, die nur zufällig mit dem großen Staatsdrama zusammenfiel.

Von Amerika aus gesehen nimmt sich europäische Sexualität dieser Tage aus wie jene beneidenswert unschuldige Freizügigkeit, die der Europäer Denis Diderot im 18. Jahrhundert den Insulanern von Bougainville andichtete – paradiesisch. In Europa müssen sich junge Männer keine Frischhaltefolie um den Penis wickeln, weil sie an kein Kondom kommen. Diese Anekdote wußte Jocelyn Elders, ehemalige oberste Amtsärztin der Clinton-Regierung auf dem Southern Festival of Books in Nashville, Tennessee, vor ein paar Jahren zu erzählen. Sie war gerade entlassen worden, weil sie Clinton in Verlegenheit gebracht hatte: Sie befürwortete die Verteilung von Kondomen an Schulen und einen Sexualkundeunterricht, der Masturbation als natürlich empfehlen sollte. Bill Clinton fürchtete mit dieser Hypothek, seinen Wahlkampf gegen Bob Dole zu verlieren.

Zurück ins Washington des Jahres 1999. Dort stellte letzte Woche die Organisation Advocates for Youth Amerikas Haltung zur Jugendsexualität in Frage. Obwohl in Europa Schulen, Eltern, Medien, ja sogar die Kirchen eine positive Einstellung zu jugendlicher Sexualität haben, sind in Europa die Zahlen schwangerer Jugendlicher sowie die Zahl der Abtreibungen, der HIV-Infektionen und der promisken Partner niedriger als in Amerika. In Europa haben Jugendliche ihren ersten Sex später (in Holland mit 17,7 Jahren) als in Amerika (mit 15,8 Jahren). In Amerika werden pro 1.000 Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren 54,7 schwanger, in den Niederlanden nur 7. In den Vereinigten Staaten werden weltweit die meisten Abtreibungen durchgeführt, und in der Altersgruppe zwischen 15 und 19 treiben in Amerika 17 von 1.000 Mädchen ab, in den Niederlanden nur 5,2. Amerika hat die höchste HIV-Infektionsrate unter Jugendlichen. Die HIV-Infektionsrate ist in den USA elfmal höher als in Deutschland, achtmal höher als in Holland und dreimal höher als in Frankreich.

Während in Amerika Sexualkundeunterricht und Kondome an der Schule heftig umstritten sind und Sex unter Jugendlichen ein Tabu darstellt, ist Sexualerziehung in den meisten europäischen Ländern eine Selbstverständlichkeit. Aufklärungskampagnen für Safer Sex werden vom Staat finanziert oder von den öffentlich-rechtlichen Medien auf eigene Kosten gesendet. In Amerika würde ein entsprechender Werbespot zum Verlust von Sponsoren führen. Besteht also ein Zusammenhang zwischen Aufklärung und geringeren „Folgeschäden“ jugendlicher Sexualität?

Dieser Frage wollte eine Gruppe von Sexualforschern nachgehen und reiste nach Europa, um mit Organisationen wie Pro Familia, Sexualkundlern, Kirchenvertretern, Eltern und Medienvertretern zu sprechen. 25 Jugendliche reisten mit. Sie hatten die Aufgabe, in Kneipen, Jugendklubs und auf der Straße Gespräche mit Altersgenossen zu führen. „Ich kam mir so doof vor“, erzählt Kendra Hollanger, die noch ein Jahr High- School vor sich hat, „ich hatte solche Hemmungen, als ich Jugendliche in einer Kneipe ansprach und fragte, ob sie mit mir über Sex zu reden bereit wären. ,Ja, gerne‘, war die Antwort, ,aber wozu? Es gibt doch soviel Interessanteres, worüber man reden könnte.‘“

„In Europa werden Jugendliche als Individuen angesehen, nicht als Risikogruppe oder Risikofaktor“, resümiert Mellissa Harris, Schülerin aus Cincinnati, Ohio, die von ihrer Reise sagte, sie habe ihr Leben verändert. Zum Staunen ihrer Hörer in Washington erklärt Jany Rademakers vom Institut für Soziosexologische Forschungen in Utrecht, daß „Enthaltsamkeit bis zur Ehe als pädagogisches Konzept in Europa unbekannt ist“. In Europa spricht man nicht mehr vom außer- oder vorehelichem Sex, sondern von Jugendsexualität, und die ist Gegenstand der Gesundheitsvorsorge und nicht der Moral: „Gesundheitspolitik richtet sich nach dem, was Jugendliche tun, nicht nach dem, was sie tun sollten.“

Die Konferenz im Senatsgebäude hatte auch einen politischen Hintergrund. Der Abgeordnete Jim Moran aus Virginia (siehe taz vom 30.10.98), der als Bürgermeister in Alexandria eine Sexualberatungsstelle für Jugendliche durchgesetzt hatte, verwies auf ganz unsexuelle europäische Errungenschaften, von denen Jugendliche profitieren: „Das europäische Sozialsystem ist viel familienfreundlicher als unseres und zielt auf Lebensqualität.“ In Jim Morans Wahlkreis arbeitet fast die gesamte erwachsene Bevölkerung – niemand stellt seine Karriere hinter der Familie zurück. „Die meiste sexuelle Aktivität findet unter Jugendlichen zwischen 15 und 17 Uhr nachmittags statt. In Europa aber sind Arbeitstag und Arbeitswoche kürzer und mehr Eltern öfter zu Hause. Auch das wirkt sich auf Gesundheit und Wohlergehen der Jugendlichen aus. Wir aber treiben uns ständig zur Maximierung ökonomischen Wachstums an, als gäbe es im Leben nichts anderes und als messe sich die Größe einer Nation an ihrer Produktivität.“ Wie nicht anders zu erwarten, riefen die Advocates for Youth ihre Kritiker auf den Plan.

Die konservative Vereinigung Focus on the Family kritisierte die Methodik der Studie und bezweifelte das Ziel ihrer Feldforschungen. Die soziologischen Erhebungen der Jugendlichen dienten wohl eher deren Indoktrinierung als der Wissenschaft.

Der Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Auch 1999 startet Youth Advocates eine „Study Tour“ zur Erforschung europäischer Annäherung zur Jugendsexualität. „Wir wollen Botschafter einer freieren Einstellung zur Sexualität erziehen“, sagt dazu Ammie Feijoo, Programmassistentin von Youth Advocates. Die Sexualität europäischer Jugendlicher habe mit der geringeren Mobilität der Europäer zu tun, die für größere Stabilität von Gemeinden, Nachbarschaften und Familien sorgt, argumentiert Focus on the Family. Vor allem das bessere Schulsystem Europas hält Jugendliche länger in der Schule, und das hat Einfluß auch auf ihre Sexualität. Auch bei amerikanischen Jugendlichen sinken Promiskuität, Abtreibungen und Infektionsraten mit der Dauer des Schulbesuchs und mit steigenden Noten.

Hinter solcher Art von Statistikauswertung scheint noch immer eine Vorstellung von Sexualität zu stecken, die in erster Linie deren Bedrohungspotential im Visier hat.