Countdown zur Lösung vom „Großen Satan“

Mit mulmigen Gefühlen fiebert die „Schottische Nationalpartei“ (SNP) der erhofften Unabhängigkeit entgegen  ■ Aus Edinburgh Ralf Sotscheck

Der Regen prasselt gegen die hohen Fensterscheiben des „Drum and Monkey Pub“ in der New Town von Edinburgh. Draußen laufen Geschäftsleute vorbei und halten sich die Aktentasche oder eine Zeitung über den Kopf, als ob sie von dem Unwetter überrascht worden wären. Dabei regnet es seit einem Jahr in Schottland, behauptet die Wirtin, und daran werde auch die Schottische Nationalpartei (SNP) nichts ändern.

Das Büro der SNP liegt gleich nebenan. Eine schmale Treppe führt zum Empfang in den ersten Stock des alten Gebäudes. Der außenpolitische Sprecher der Partei, Angus Robertson, öffnet die Glastür und führt uns ein Stockwerk höher in das Konferenzzimmer. An der Wand hängt in einem Holzrahmen eine Titelseite des Independent On Sunday: „Unabhängig“, so lautet die Schlagzeile, und darunter: „Alex Salmond bildet schottische Regierung, Robin Cook wird englischer Botschafter in Edinburgh.“

Noch ist es Wunschdenken: Die Sonntagszeitung trägt das Datum 9.Mai 1999. Drei Tage vorher wird Schottland das erste eigene Parlament seit fast 300 Jahren gewählt haben. „Wir liegen bei Umfragen Kopf an Kopf mit der Labour Party, der kleinste Fehler vor den Wahlen kann über das Ergebnis entscheiden“, sagt Angus Robertson in perfektem Wienerisch. Der 29jährige hat sieben Jahre beim Österreichischen Rundfunk gearbeitet und war gleichzeitig Korrespondent für die BBC. „Nun, da Schottland ein Parlament bekommen soll, mußte ich mich zwischen Journalismus und Politik entscheiden“, sagt er, „beides ging nicht mehr.“ Zum Jahreswechsel kehrte er nach Schottland zurück. Bei den Wahlen kandidiert er in Midlothian, das ist der Wahlkreis Süd- Edinburgh und Umgebung.

Gesundheit, Bildung und Wirtschaft, sagt Robertson, seien die Themen im Wahlkampf, doch offiziell hat er noch nicht begonnen. „Wir stellen bei diesen Themen immer die Verfassungsfrage. Wir glauben, wenn sich die Schotten daran gewöhnt haben, wieder ein eigenes Parlament zu haben, dann wollen sie auch bald über die anderen Bereiche, in denen London weiterhin das Sagen hat, selbst entscheiden.“

Deshalb will die SNP dazu beitragen, daß das schottische Parlament ein Erfolg wird. An der Verfassungskonferenz, die seit 1989 tagte, um ein gemeinsames Konzept der Dezentralisierung Großbritanniens zu entwickeln, hatte die Partei ebensowenig teilgenommen wie die Konservativen, die am britischen Status quo am liebsten gar nicht rütteln wollten. So blieb es der Labour Party und den Liberalen zusammen mit Gewerkschaften, Kirchen, Kommunalverwaltungen und Frauenorganisationen überlassen, Vorschläge für begrenzte Selbstverwaltung Schottlands innerhalb des Vereinigten Königreiches zu entwickeln, die dann von der Regierung Blair nach ihrer Wahl aufgegriffen wurden.

Die Bereiche Außenpolitik, Finanzen des gesamten Königreiches, Verteidigung, Sozialversicherung, Staatsbürgerschaft und Verfassungsfragen werden weiterhin in London entschieden, alles andere untersteht dem neuen Parlament in Edinburgh. Darüber hinaus darf es bei der Einkommenssteuer bis zu drei Prozent vom Basissteuersatz abweichen. Ebenfalls neu ist das Wahlsystem: 56 der 129 Sitze werden nach dem Verhältniswahlrecht vergeben, die übrigen 73 nach dem herkömmlichen Mehrheitswahlrecht.

„Der Wahlmodus kommt der SNP zugute“, glaubt Robertson. „Beim Mehrheitswahlrecht hatten wir trotz hohen Stimmenanteils nur wenige Sitze gewonnen. Sicher, auch die Tories, die sich mit Händen und Füßen gegen eine Veränderung des Wahlsystems gesträubt haben, profitieren nun davon, aber bei einer Partei, die bei Umfragen um die zehn Prozent liegt, ist das weniger interessant.“ Rund die Hälfte aller Sitze soll an Frauen gehen, darauf haben sich SNP und Labour geeinigt.

Auf ihren wichtigsten Wahlhelfer muß die SNP allerdings verzichten. Im Flur der Parteizentrale hängt ein Porträt des James-Bond- Darstellers Sean Connery in Öl. Doch der Schauspieler, der jedes Jahr einen Scheck über 50.000 Pfund in die Parteizentrale schickt, will sich nicht in den Wahlkampf einspannen lassen. Er hat Angst, einen Großteil seiner schottischen Fans zu verärgern. Als er 1991 in einem SNP-Wahlspot aufgetreten war, hagelte es böse Briefe.

Doch auch ohne Connery geht bei der schottischen Labour Party die Angst um. In einem internen Papier, das dem Observer zugespielt worden ist, räumt Labour- Wahlkampfmanager Douglas Alexander ein, daß viele traditionelle Labour-Wähler zur SNP abwandern könnten. Die SNP stehe links von Labour, und das komme in Schottland an. „Viele Labour- Wähler haben eine vage, aber durchaus positive Vorstellung von Unabhängigkeit“, heißt es in dem Papier. „Sie glauben, sie können ihre schottische Identität gefahrlos ausdrücken, indem sie für eine sogenannte schottische Partei stimmen.“ Die Labour-Attacken auf die SNP seien nach hinten losgegangen: Bei den Wählern sei der Eindruck entstanden, Labour untergrabe das schottische Selbstvertrauen und halte die Schotten für zu schwach, es alleine zu schaffen, beklagt Alexander.

Einen Großteil ihrer Probleme hat sich die Labour Party selbst zuzuschreiben. Der schottische Parteiableger ist immer wieder in die Schlagzeilen geraten. Gegen den Unterhausabgeordneten aus Glasgow-Govan, Mohamad Sarwar, läuft ein Verfahren wegen Bestechung, Wahlbetrug und falscher Spesenabrechnungen. Gordon Jackson, der im selben Wahlkreis für das schottische Parlament kandidiert, soll bei der parteiinternen Wahl durch Schummelei gewonnen haben. Fünf langjährige Mitglieder sind aus Protest aus der Partei ausgetreten. Und bei der Vergabe der Listenplätze, über die nicht die Parteibasis, sondern ein Ausschuß entschied, sollen Freunde von Premierminister Tony Blair den Vorzug erhalten haben.

Bei der SNP durfte dagegen jedes Parteimitglied über die Listenplätze bestimmen, und das bereitet Parteichef Alex Salmond nun Kopfschmerzen: Mindestens zwölf seiner Kritiker werden wohl ins Parlament einziehen – das ist viel bei prognostizierten 43 SNP-Sitzen. Eine der schärfsten Gegnerinnen der gemäßigten Salmond-Linie sagte: „Die Leute, die Woche für Woche zu den Parteisitzungen gehen, haben die fundamentalistische Politik für umgehende schottische Unabhängigkeit bestätigt. Wir können es uns nicht leisten, abzuwarten.“

Der Streit um die richtige Strategie beherrscht die SNP von Anfang an. Sie wurde 1934 gegründet, nachdem Labour und Liberale ein ums andere Mal von ihrem Versprechen nach Teilautonomie abgerückt waren. Die SNP entstand aus einer Fusion der linken National Party of Scotland mit der konservativen Scottish Party. „Heraus kam eine eher rechte Partei“, sagt Angus Roberston, „und seit 65 Jahren bewegen wir uns nach links. Heute ist die SNP eine sozialdemokratische Partei, die links von Labour steht und vor allem viel proeuropäischer ist.“

Ihr erstes Unterhausmandat gewann die SNP 1967. Der Durchbruch kam bei den Wahlen 1974. In der Nordsee hatte man Öl entdeckt, und die SNP bestritt den Wahlkampf mit dem Slogan: „Es ist Schottlands Öl.“ Die SNP gewann 30 Prozent der Stimmen und ist seitdem ein Machtfaktor in Schottland.

Hat der wiedererstarkte Nationalismus eine Kehrseite? Lord Gordon of Strathblane, der Direktor des schottischen Fremdenverkehrsamtes, berichtete Ende vorigen Jahres vor einem Unterhausausschuß über zunehmende rassistische Übergriffe auf Engländer, vor allem im schottischen Hochland: Eingewanderte englische Familien berichten von Urin im Briefkasten, Eierhagel auf dem Weg zur Kirche, Prügel auf dem Schulhof. Im vorigen Jahr wurde der englische Jugendliche Mark Ayton in einem Vorort von Edinburgh von drei schottischen Jugendlichen ermordet.

Im Guardian wurde am Samstag berichtet, daß US-amerikanische Neo-Nazis die schottische Geschichte entdeckt hätten und ihre rassistische Literatur nunmehr mit schottisch-keltischen Symbolen garnierten. Viele Rituale des Ku- Klux-Klan, der von Nachkommen schottischer Auswanderer gegründet worden sein soll, basieren auf den alten Bräuchen einer Geheimgesellschaft, die früher im Nordosten Schottlands aktiv war. Auslöser sei der Film „Braveheart“ gewesen. Der Klan halte die Kelten für die reinste Rasse der Welt, wird ein US-Experte zitiert.

„Wir sind keine ethnische Partei“, betont Angus Robertson, „sondern eine staatsbürgerliche Bewegung, die sich an alle wendet, die in Schottland leben.“ Als Beispiel führt er die SNP-Sektion „Schottische Asiaten für Unabhängigkeit“ an. SNP-Chef Alex Salmond läßt kaum eine Gelegenheit verstreichen, um sich vom Rassismus zu distanzieren. „Wir müssen aufhören, die Engländer für alles verantwortlich zu machen“, sagte er auf dem Parteitag in Inverness im Oktober. Der nächste Redner, Schatzmeister Kenny Macaskill, sprach von „England, dem großen Satan“.

Die Labour Party versucht, sich diese Ambivalenz zunutze zu machen. Schottland-Minister Donald Dewar, der gerne für Labour der erste schottische Premierminister werden möchte, rief vorige Woche die schottischen Wähler dazu auf, dem „engstirnigen Nationalismus der SNP“ eine Absage zu erteilen. Außenminister Robin Cook, ein Schotte, prophezeite, die SNP wolle das Land aus der Nato führen; Tony Blair, ebenfalls in Schottland geboren, sprach der SNP die Kompetenz ab, die gut fünf Millionen Schotten zu regieren. Unterstützung erhält er von den Wirtschaftsbossen: Zehn führende Unternehmer erklärten, Unabhängigkeit führe zu Jobverlusten und einem Investitiosstopp.

Angus Robertson kann darüber nur lachen. Schottland sei die siebtreichste Nation der Welt, das gehe aus OECD-Zahlen hervor, behauptet er und gießt frischen Kaffee in die Tassen, die mit der gelben SNP-Schleife, dem Symbol für die schottische Distel, dekoriert sind. „Wir besitzen die beiden größten Exportindustrien Britanniens, Öl und Whisky, den viertgrößten Bankensektor der EU und 70 Prozent aller Energiereserven Europas. Wenn wir es damit nicht schaffen sollten, wirtschaftlich zu überleben, wären wir selbst schuld.“