Machtvolle Ohnmacht

■ Zur Vorschau: Am Donnerstag vergleicht Sigrid Schade in einem Vortrag hysterische mit künstlerischen Bewegungsmustern

Eine Art wissenschaftlich sanktionierte Peepshow: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts öffnete der berühmte Neuropathologe Jean-Martin Charcot seine Vorlesungen zur weiblichen Hysterie der interessierten Allgemeinheit. In seinen Dienstagslesungen, den legendären Lecons du mardi, präsentierte er der intellektuellen Elite von Paris besonders „begabte“ Hysterikerinnen aus der Klinik Salpetriere wie Tiere im Zoo. Seit 1862 war er Chef jenes „lebenden pathologischen Museum“ (Charcot), das bisweilen mit 5.000 leibhaftigen Anschauungsexemplaren bestückt war. Durch Druck auf die Eierstöcke, Elektroschock oder Hypnose löste er eindrucksvolle Zeichen des Außersichseins aus: Zittern, Bodenwerfen, Händeringen, Verrenken und immer wieder ein Durchbiegen des Rückens, das wie ein auf halbem Weg eingefrorener Ohnmachtsanfall wirkt. Ein extra eingerichtetes Fotostudio und -labor dokumentierte dies Bewegungsinventar.

Körperliche Ursachen für die Hysterie konnte Charcot nicht erkennen; trotzdem hielt er sie nicht wie viele Zeitgenossen für Simulation, sondern „Natur“. „Dem wüsten Durcheinander und Chaos ist eine klare, unumstößliche Regel unterzulegen... von dauernder Gültigkeit.“ Der Arzt, der sich im Alter von 18 Jahren beinahe für eine freie Künstlerexistenz entschieden hätte und diese Leidenschaft später in einer exzellenten Kunstsammlung materialisierte, wilderte auf kunsthistorischem Terrain um seine Thesen zu begründen. In dem Buch „Die Besessenen in der Kunst“ (seit 1988 in deutscher Übersetzung im Steidl Verlag für 45 Mark erhältlich) entdeckt er Vorfahrinnen seiner Hysterikerinnen in Darstellungen von Hexenaustreibungen, Kreuzigungsszenen, Märtyrerinnen in der Malerei der Renaissance und des Barock – und plazierte sie an den Wänden des Vorlesungsraums. Seine Folgerung: Schon Rubens kannte die Hysterie, also entspringt sie nicht dem Zeitgeist.

Längst ist es state of the art der feministischen Forschung, daß Charcot Ursache und Wirkung verwechselte: Die in Fotos und Bildern für jedefrau sichtbar gemachten Vorerwartungen der Mediziner waren wohl mit dafür verantwortlich, daß viele Frauen ihre höchst individuellen Neurosen, Psychosen und wohl auch Eitelkeiten in eben jenem standardisierten Schauspiel der Hysterie ausdrückten.

Die Bremer Kunstwissenschaftlerin Sigrid Schade beleuchtet das Thema innerhalb einer interdisziplinären Vortragsreihe zur gender-Debatte unter dem Titel „Zwischen Kunst und Psychiatrie: Charcot und das Schauspiel des hysterischen Körpers“. Dort sprengt sie Charcots ahistorische, unpsychologische Hysterietheorie mit Hilfe der Ikonologie des legendären Kunsttheoretikers Aby Warburg: Wo Charcot die Kunst als naturalistisches Abbild der Welt deutete, verweist Warburg auf deren Vernetztheit mit Ideologie. Und im ausgehenden 19. Jahrhundert verschweißte der männliche Blick eben offenbar bei der Frau Wahnsinn, Sexualität, Hilflosigkeit, Extase zu einem halb faszinierenden, halb beängstigenden Komplex. bk

4.2., 19.30h, Uni-Gästehaus, Teerhof 58