Der Chef

■ Seit 100 Tagen regiert das System Schröder. Niemand versteht es besser als der Kanzler, mit Zuckerbrot und Peitsche zu arbeiten. Seine politischen Ansprüche sind nicht hoch, was er hochhält, ist Schröder.

Gerhard Schröder brüllt. „So geht das nicht. So mache ich das nicht mit!“ Dann rauscht er aus dem Saal und knallt die Tür hinter sich zu. Betroffenheit bei den Ministerinnen und Ministern am Kabinettstisch. Erst recht, als Schröder nicht wiederkommt. Eine Ministerin wird ausgeguckt, die ihm eine Flasche Rotwein besorgen muß, und als es am nächsten Tag zur Neuauflage der Kabinettsrunde kommt, ist die mucksmäuschenstille Schar froh, daß der Chef auf einmal wieder so aufgeräumt ist. Das war in den ersten Tagen der rot-grünen Koalition 1990 in Niedersachsen.

Nun, als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, geht Schröder mit seinem Kabinett pfleglicher um, aber das Prinzip ist das gleiche: Auf den Putz hauen, sich später versöhnlich zeigen und dann als unangefochtener Chef seine Vorstellungen durchsetzen. In Niedersachsen, heißt es, gebe es kaum einen Minister, dem Schröder nicht einmal die Grenzen gezeigt habe. Auch in Bonn können einige ein Liedchen davon singen. Edelgard Bulmahn zum Beispiel, die Schröder in einer Präsidiumssitzung anraunzte, weil sie ihm zusammen mit dem von ihm ungeliebten Michael Müller einen Brief mit klugen Ratschlägen geschrieben hatte. So eine könne er als Ministerin nicht gebrauchen, polterte er. Aber dann wurde sie es doch. Froh, mit dem Schrecken davongekommen zu sein, hält sich Bulmahn nun mit ihren Plänen zurück, Studiengebühren gesetzlich verbieten zu lassen. Oder nehmen wir den grünen Umweltminister Jürgen Trittin. Am Freitag vor zwei Wochen fragte er den Kanzler: „Stehst du?“ Schröder erwiderte: „Ich stehe.“ Am Wochenanfang verkündete er dann, daß die Atomrechtsnovelle des Umweltministers auf Eis gelegt werde. Trittin war der Sündenbock.

Hämisch waren die Medien in den ersten Wochen nach der Bundestagswahl über die Führungskraft des Bundeskanzlers hergezogen. „Wo ist Schröder?“ fragte der Spiegel. Der Stern titelte „Der Chef“ und meinte damit Parteichef und Finanzminister Oskar Lafontaine. Hatte nicht Lafontaine Jost Stollmann als Wirtschaftsminister sowie Rudolf Scharping als Fraktionsvorsitzenden vergrault, und hatte er nicht die Steuerreform im Alleingang eingetütet? Inzwischen redet niemand mehr von Stollmann, Scharping wird als Verteidigungsminister allseits gelobt, und die Steuerreform wurde so oft nachgebessert, daß Landwirte, Autofahrer und Buchhändler ihrem Kanzler dankbar sein werden.

Inzwischen ist klar, wer da Chef ist. Schröder hatte daran von Anfang an keinen Zweifel. Als Lafontaine das Finanzministerium auf Kosten des Wirtschaftsministeriums vergrößern wollte und damit Stollmann den Vorwand für den Rücktritt lieferte, ließ er ihn machen. „Soll der Lafontaine doch so viel anhäufen, wie er will“, kommentierte er. „Je mehr der mit Aufgaben zugedeckt ist, desto eher macht er Fehler.“ Lafontaine hat es nun schwer genug, sich als Finanzminister zu behaupten. In der SPD-Fraktion hat er, nachdem Scharping ausgebootet wurde, ohnehin nichts zu lachen. Zudem hat Schröder die Fraktion in bewährter Weise auf seine Seite gebracht. Auch diejenigen, die er noch als Kanzlerkandidatenaspirant vor den Kopf gestoßen hatte, loben ihn nun, weil sie erleichtert sind, wie kooperativ sich Schröder verhält. Fraktionschef Peter Struck zum Beispiel, den Schröder einst als typischen Vertreter des „Kartells der Mittelmäßigkeit“ bezeichnet hatte, ebenso wie Michael Müller. Schröder fühle sich auch als Lehrling und nicht nur als Meister, lobt Müller. Er höre gut zu und lasse sich auf Leute ein, die anderer Meinung seien als er.

Zum ersten Mal trat der Bundeskanzler Gerhard Schröder bei dem Streit um die 620-Mark-Jobs als Entscheider auf. Für Freund und Feind überraschend, verkündete er im Bundestag eine Neuregelung, die einer Ohrfeige für seinen Arbeitsminister Walter Riester gleichkam. Nichts war es mehr mit der 300-Mark-Grenze, die zu einer deutlichen Einschränkung der Billigjobs führen sollte. Wie so oft fühlte sich Schröder nicht in erster Linie Parteitagsbeschlüssen und Koalitionsvereinbarungen verpflichtet, sondern hörte auf Volkes Stimme – so wie in diesem Fall auf die der Zeitungsverleger. Denn die wollten möglichst nichts geändert wissen. Während die anderen noch diskutierten, ob die neue Grenze nun 300 Mark oder 200 Mark betragen sollte, präsentierte sich Schröder als Erlöser. Daß die von ihm präsentierte Regelung mit Fehlern behaftet sein könnte, kümmert ihn nicht. Er will, daß die Richtung stimmt. Um die Details sollen sich andere kümmern.

An ein Patentrezept glaubt der Pragmatiker nicht. Lösungen sollen sich in der Kontroverse entwickeln. Er kann nicht anders, weil er kein Mann der fertigen Lösungen ist, geschweige denn der Visionen. Daß er dabei den Ansprüchen derer nicht genügt, die einen meinungsbildenden statt einen meinungsfolgenden Kanzler wollen, glaubt er verkraften zu können.

Häufig wird Schröder vorgeworfen, er denke nicht strategisch. Zumindest, wenn es um seine Zukunft geht, denkt er lange voraus. Schon in seiner Anfangszeit als Regierungschef in Niedersachsen bereitete er sich auf seine Kanzlerrolle vor. Um für das internationale Geschäft gewappnet zu sein, suchte er die Gespräche mit Regierungschefs kleinerer Länder, die sich mit dem Besuch des Ministerpräsidenten eines Sieben-Millionen-Bundeslandes schmückten.

Doch bisher war von Schröders taktischem Geschick auf dem außenpolitischen Parkett wenig zu spüren. Mit markigen Sprüchen brüskierte er die EU-Partner beim Thema Nettoentlastung. Aber auch das gehört zum System Schröder. Er baut zunächst in der Öffentlichkeit eine harte Position auf, verhandelt dann in aller Stille konziliant und setzt darauf, daß die anderen froh sind, wenn sie glimpflich davonkommen.

Allzu schwer wird er es ihnen nicht machen. Schröder ist schließlich kein Mann zu hoher politischer Ansprüche. Außerdem kann er ja so „charmy“ sein, findet eine grüne Abgeordnete. Neulich beim Besuch der Grünen-Fraktion habe er gesagt: „Es soll ja Leute geben, die auf sechs Pfennig Mineralölsteuererhöhung beharrt haben.“ Da haben sie gelacht, obwohl sie doch eigentlich stinkesauer sein müßten, daß er sie so über den Tisch gezogen hat. Markus Franz