Geschlossene Gesellschaft

Sie sitzen. Wegen Diebstahls oder Drogen. Und sie spielen Theater, um das Gefängnis zu vergessen – Frauen aus der Justizvollzugsanstalt Berlin-Lichtenberg. Mit Therapie hat das wenig zu tun, eher mit dem Kampf gegen Langeweile und für mehr Selbstbewußtsein. Nun treten an der Berliner Volksbühne erstmals Frauen aus einem Knast auf – mit einem selbsterarbeiteten Bühnenstück. Einblicke in die Theaterarbeit hinter Gittern  ■ von Holger Zimmer

Die vier Frauen sitzen herausgeputzt an der Stirnseite des Saales. Die anderen drei Seiten sind mit Zuschauern besetzt. Die Frauen haben Nummern auf dem Rücken. Nummer 34 erhebt sich würdevoll. Sie trägt einen Purpurrock mit Spitzenbesatz, darüber eine dunkle Kostümjacke, hochgeschlossen. Die blonden Haare sind zu einem Dutt geformt. Einen schwarzen Fächer elegant in der linken Hand haltend, schreitet Nummer 34 in die Mitte des Raumes. Anastasia, Königin von Rußland, nimmt teil an einem Tanzturnier. Wird sie das Publikum bezaubern? Anastasia läßt sich Zeit. Gekonnt reicht sie der Turnierleiterin ihren Fächer. Dann läßt sie sich zu zu Boden gleiten und – macht Liegestütze. Dreißig Stück aus dem Stand.

Tanzturnier, Anastasia – alles Theater, Fiktion. Um so realer ist der Ort der Aufführung. Ein kleiner Saal mit niedriger Bühne, neben den zwei Klavieren in der Ecke kränkeln ein paar Grünpflanzen. Die Fenster geben den Blick auf einen Innenhof mit Basketballfeld und Gewächshaus frei. Es sieht aus wie in einem Gemeindesaal. Doch dieser Saal ist vergittert, der Hof aus Sicherheitsgründen grell erleuchtet.

Anastasia heißt Anna und ist eine der achtzig Gefangenen der neueröffneten Justizvollzugsanstalt für Frauen, Berlin- Lichtenberg. Ein ehemaliger Stasiknast, der renoviert nun als Frauenknast dient. Viele der hier Inhaftierten sind drogenabhängig und im Gefängnis wegen Beschaffungskriminalität. Einige verbüßen längere Haftstrafen oder sitzen in Untersuchungshaft.

Anna jedoch spielt Theater.

Und dafür sorgte die Schauspielerin und Regisseurin Gudrun Herrbold. Bei einem Theaterprojekt in Berlin-Tegel, Deutschlands größtem Männergefängnis, kam ihr die Idee, etwas Ähnliches auch für Frauen anzubieten. Bundesweit gibt es etwa zwanzig Theatergruppen in Gefängnissen, die meisten treten nicht öffentlich auf.

Im September letzten Jahres erklärte sich der Anstaltsleiter von Lichtenberg einverstanden, es mit dem Theater zu probieren. Was dann folgte, war mühsame Arbeit.

Auf die Frage, was sich die Inhaftierten von dem Theaterprojekt erwarten, hat Gudrun Herrbold eine klare Antwort: „Daß wir es schaffen, sie gut zu unterhalten!“

Doch den inhaftierten Frauen scheint es um mehr zu gehen, als nur um gute Unterhaltung. „Theater ist Spaß, ist was für die Seele“, sagt Toni aus Prag in einer Rauchpause. „Theater bedeutet Flucht aus der steinernen Gewalt.“ Und Sigrid sagt: „Es sind drei Stunden, wo ich nicht fühle, daß ich im Knast bin.“ Anna will auch „draußen“ Schauspielerin werden. Natascha überlegt: „Ick mag det hier, aber am Anfang war mir zu viel Hampelei, die Improvisationen und so, da mußte ick mir erst dran jewöhnen.“ Sie hat jedoch einen besonderen Grund zum Durchhalten. Sie fiebert dem geplanten Gastspiel der Frauen in der JVA Tegel entgegen. Dort sitzt ihr Freund, und der soll sie spielen sehen.

Anfangs war die Skepsis der Gefangenen groß. Nur mühsam haben sich die neun Theaterprofis und die Frauen aus der JVA angenähert. „Die Frauen haben uns durchleuchtet und unbewußte Vorurteile und Berührungsängste sofort enttarnt“, sagt die Dramaturgin Saskia Draxler. Doch irgendwann hatte sich auf den Fluren herumgesprochen, daß die Künstler „keine Therapie machen“.

Daß die Theaterleute „von draußen“ kommen, ist wohl der Grund, warum es dann doch relativ schnell zu einem Zusammenspiel kam. Vertrauen wächst schneller ohne Anstaltshierarchien. Die Frauen erzählen den Theaterleuten Geschichten, aus denen dann Bühnenstücke werden. Wahre Geschichten, ersponnene Geschichten, ihre Geschichten.

Nur vier Prozent aller Inhaftierten in Deutschland sind Frauen. In Berlin etwa sind von fünftausend Inhaftierten zweihundert weiblich. Den Grund hierfür wollen Gudrun Herrbold und ihr Team mit ihrer Theaterarbeit herausfinden. Sind Frauen die besseren Menschen? Oder einfach weniger kriminell? Wie gehen Frauen mit Gewalt um? In der viermonatigen Probenphase beschäftigten sich Insassinnen und Theatermacherinnen mit Fragen zu weiblicher Aggressivität und geschlechtsspezifischem Rollenverhalten.

So entstand das Stück mit dem Namen „La Grande Vie“. Eine Persiflage auf ein Tanzturnier, in dem Frauen ohne männliche Partner tanzen und gängige Klischees weiblichen Verhaltens in Frage stellen. So wie Anna, die den Tanz verweigert und statt dessen ihre Armmuskeln trainiert. Oder Toni, die sich mit ihrem Stewardeßkäppi keck hinstellt und verkündet, sie suche Abenteuer. Oder Natascha, die statt Kleid und Ballschühchen Springerstiefel mit Kapuzenweste trägt, zur Musik von Johnny Cash Whiskey trinkt und schließlich einen Plattenspieler zertrümmert.

Das Tanzturnier gerät Auftritt für Auftritt in den Hintergrund, Momente aus dem Knastalltag und den Biographien der Frauen scheinen durch. Sigrid in der Rolle der Angel sagt fast beiläufig: „Sich Mühe geben allein nützt gar nichts... Angesichts der unmenschlichen Situation bleibt einer selbstbewußten Frau nur übrig, den Schwierigkeitsgrad ihrer Künste zu erhöhen.“

Da jedoch werden vom Tonband überlaut Fragen eingespielt. Sie stammen aus dem Verhörprotokoll des deutschen Bildungsbürgertums, dem Fragebogen der Frankfurter Allgemeinen. Wie eine Inquisitionsmaschine feuert das Tonband die Fragen auf die Gefangenen ab: „Ihr Lieblingslyriker? Ihre Heldinnen in der Geschichte? Geistesverfassung?“ Die Fragen werden zu Geschossen, schneller, immer schneller, die Antworten werden leiser und verstummen. Hier drin greifen die Klischees aus den Feuilletons der „deutschen Leitkultur“ nicht. Ein Moment entsteht, in dem sich die Zuschauer von außen fragen, was sie eigentlich erwarten. Ihre Vorstellung vom Knast deckt sich nicht mit der Vorstellung im Knast. Was sie geboten bekommen, enthält immer eine Spur Unsicherheit, Ungewißheit.

Theater im Gefängnis funktioniert nicht durch ein professionelles „in der Rolle bleiben“, sondern lebt von der Verwandlung, vom Wechsel der zugeschriebenen Rollen. Für Anna Scheer, Schauspielerin und zuständig für das Körpertraining der Gruppe, bedeutet es die Chance, „sich einmal anders zu spüren als nur als eine Verbrecherin, eine Gefangene“. Gegen Ende des Stückes legen die Frauen schließlich ihre Nummern ab und tanzen doch noch. Sie tanzen gemeinsam, weil sie es wollen, nicht weil es das Skript vorschreibt. Sie plündern die Preispyramide, die eigentlich der Siegerin galt, und verteilen Chips ins Publikum. Applaus, und als Zugabe: noch ein Tanz.

Ganz schön selbstbewußt, die Damen. Und genau darum gehe es, sagt Gudrun Herrbold. „Kunst ist eigentlich auch immer Sozialarbeit, das ist ein positiver Nebeneffekt.“ Auch seitens des Gefängnispersonals hofft sie auf Veränderung. „Ich glaube, daß einige einmal mit sehr guten Vorsätzen angefangen haben zu arbeiten und daß sie diesen Impuls bei uns auch spüren und an etwas erinnert werden, was sich über die Jahre verschleppt hat.“ Anstaltsleiter Blümel ist da etwas vorsichtiger: „Kunst und totale Institution, das ist nicht ganz einfach.“ Dennoch gibt er sich optimistisch, daß die Akzeptanz des Theaterprojektes wächst. Ob es ihm persönlich gefallen habe? Da antwortet er nur knapp: „Gut, danke, gut; sehr schön!“

Ob das Projekt, das die Beteiligten ohne jegliche finanzielle Unterstützung vier Monate lang aus eigener Kraft organisierten, nach „La Grande Vie“ fortgesetzt wird, ist noch unklar. Die anvisierten Gastspiele in Tegel und an der Berliner Volksbühne könnten der Initiative aber vielleicht doch noch willkommene Publikumsunterstützung bescheren. Schließlich wäre die Aufführung an der Volksbühne die erste in Berlins Justiz- und Theatergeschichte, in der Gefangene die Möglichkeit haben, ein Stück von sich selbst öffentlich zu präsentieren.

„Ich meine, daß sich zwei Welten in diesem Theaterprozeß einander angenähert haben. Das Wichtigste aber ist, daß wir unheimlich viel Spaß zusammen haben“, sagt Gudrun Herrbold nach der Aufführung. Toni formuliert es anders: „Ich denke, daß es das Leben im Knast ein Stückchen leichter macht, weil man etwas hat, worauf man sich freut.“ Und dann sagt sie noch: „Es gibt hier von solchen Dingen einfach viel zuwenig.“

Holger Zimmer, 29, lebt als freier Autor in Berlin. Er schreibt vor allem über Theater und Ausstellungen.

„La Grande Vie“

wird am 9. Februar in der Berliner Volksbühne aufgeführt.