Die Verlandung der Insel

Das neue Konzept des Bahnverkehrs könnte in Berlin den Mythos vom Nabel der Welt zu einer Realität machen. Auftakt zur taz-Serie „Berlin revisited“  ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Der Insulaner glaubte es erst, als er angekommen war: Er befand sich plötzlich ganz weit weg, dabei hatte die Weltreise keine vier Stunden gedauert. Bisher hatte der Insulaner solche Trips immer vermieden. Was konnte es woanders schon geben, was es bei ihm zu Hause nicht gab?

Im Kopf des Inselmenschen war Berlin der Nabel der Welt. Seine Mentalität wurde geprägt durch die Art, wie er verkehrte, vielmehr nicht verkehrte. Mit der Freizügigkeit vermißte er eine Grundvoraussetzung allen menschlichen Daseins. Spätestens seit der Blockade von 1948 wurde Erreichbarkeit zum aufgeheizten Politikum. Die Teilung rückte die Stadt weit ab vom Schuß. Von München kam man schneller nach Verona als von Berlin nach Hannover. Ein Verkehrssystem gab es genausowenig wie eine Stadt. Faktisch war Berlin eine doppelte Sackgasse – von Ost und von West.

Ein Blick auf die Transportprojekte am Lehrter Bahnhof verrät, daß im Berlin-Verkehr bald nichts mehr so sein wird, wie es mal war. Was aber bleibt, ist seine politische Relevanz. Nach der Wende mußte der Fernverkehr Ost und West verbinden. Es galt die Hardware zu erstellen, mit der die Stadt die Gunst ihrer geographischen Lage im Zentrum Europas in einen handfesten Standortvorteil ummünzen könnte. Aus dem doppelten Außenposten mußte ein Knoten im Städtenetzwerk werden. Der Vorreiter dieser Entwicklung waren nicht Flugzeug oder Auto, sondern das vermeintlich überholteste Transportsystem: die Bahn.

Das ist erstaunlich. Denn der Schienenverkehr, der auch in West- Berlin unter dem Patronat der DDR stand, hatte im Schatten der Mauer einen dramatischen Niedergang erfahren. Regionalverbindungen ins Umland gab es nicht. Im Fernverkehr waren Anschlüsse rar, nicht vertaktet oder auf Umsteigen abgestimmt. Die Reisezeiten waren endlos. Die Fahrt in das kaum 500 Kilometer entfernte Frankfurt/ Main etwa dauerte siebeneinhalb Stunden. Die Züge hielten oft und lange, nicht nur an den Grenzstationen. Mehrere Lokwechsel waren nötig, weil kaum eine Strecke durchgängig elektrifiziert war. Schlechte Strecken zwangen die Züge teilweise zu einem so langsamen Trott, daß man sie zu Fuß hätte überholen können. Ihre schäbigen Plastikbänke verströmten Lysol- Geruch. Die Bahnhöfe waren Dunkelzonen, Warten eine Greuel.

Nach der Wende wurde die Reichsbahn mit der Bundesbahn zur Deutschen Bahn vereinigt. Entscheidender war jedoch der Beschluß der Bundesregierung von 1994, das Staatsunternehmen zu privatisieren. Das setzte eine umfassende Modernisierung mit mehr Sicherheit, Sauberkeit, Service und Streckenausbau in Gang, Maßnahmen, die sich vor allem auf Berlin konzentrierten. Die Investitionen addierten sich zu einem zweistelligen Milliardenbetrag und übertreffen damit alle anderen Verkehrsträger.

Die Stationen sind heute kaum wiederzuerkennen. Die Haltepunkte, an denen man einst selbst Primärfunktionen vermißte, offerieren eine Komplettversorgung auf früher unvorstellbarem Niveau. Im Berlin-Verkehr reist man im neuesten Material, mehrheitlich ICE. Mit telefonischer Erreichbarkeit, Stromversorgung, Video- und Musikunterhaltung übertrifft der Servicestandard selbst das Flugzeug: Fahrzeiten sind fortan keine verschenkten Zeiten mehr. Und die konnten ohnhin radikal verkürzt werden. Alle Hauptstrecken von und nach Berlin sind nun elektrifiziert. Nach Frankfurt/Main ist man in weniger als vier Stunden unterwegs. Nach Hamburg, Nürnberg und Prag konnte die Reisedauer um anderthalb, nach Köln, Budapest und Warschau um mehr als drei Stunden verkürzt werden. Ein moderner Fahrplan wurde eingeführt, die Zugfrequenz deutlich erhöht. Während es einst nur zwei Direktverbindungen nach Frankfurt/ Main gab, sind es heute 22. Und die Bahn beweist, daß man so neue Kunden für ein öffentliches Verkehrsmittel gewinnen kann: Nirgendwo sind ihre Wachstumsraten höher als im Berlin-Verkehr. Mit Eröffnung der neuen Trasse stieg die Zahl der Fahrgäste um 24 Prozent.

Die beiden größten Verbesserungen stehen noch bevor. Beide werden um den Lehrter Bahnhof herum ins Werk gesetzt: Hier soll zum ersten Mal eine Transporttechnik in den Alltagstest gehen, die die Reisezeiten auf einen Bruchteil zu reduzieren verspricht. Mit dem Transrapid, wenn er wirklich ab 2005 Berlin und Hamburg verbinden sollte, würde sich die Fahrzeit mit einer Stunde einer Größenordnung nähern, wie sie bisher zur Überwindung innerstädtischer Distanzen üblich war. Aus zwei Städten wird eine. Welche Konsequenzen die Möglichkeit, hier zu arbeiten und dort zu wohnen, für die Stadtentwicklung haben wird, ist noch nicht abzuschätzen. Sicher ist, daß sie sich nicht in Lärmschutzwällen erschöpfen werden.

Noch wichtiger ist eine andere Neuerung: Wie in anderen Städten endete die Bahn früher vor den Toren der Stadt, in Form von Kopfbahnhöfen, die Reisen über mehrere Stationen sehr zeitaufwendig machten und zu Barrieren der Stadtentwicklung wurden. Diese Probleme konnten 1882 mit der Stadtbahn nur in Ost-West- Richtung abgefedert werden.

Und erst heute gelingt die Verwirklichung einer Nord-Süd-Verbindung. Am Schnittpunkt beider Achsen bekommt Berlin, dessen Zugverkehr einst über zwölf Stümpfe verteilt war, mit dem neuen Lehrter Bahnhof eine Zentralstation. Vier Haltepunkte in allen Himmelsrichtungen werden die Nachteile einer Konzentration vermeiden. Das 1992 festgeklopfte

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Fortsetzung

Pilzkonzept ist von einer so bestechenden Logik, wie sie nur Neuplanungen eigen ist. Als erste deutsche Großstadt wird Berlin über ein Bahnnetz verfügen, das diesen Namen verdient. Ähnliche Projekte in Frankfurt, München und Stuttgart sind derweil erst in der Planungsphase.

Noch bedeutender als die Binnenwirkung des Projekts wird seine Ausstrahlung sein. In der Innenstadt treffen sich die Reiseströme zwischen Stockholm und Rom, Moskau und Paris. Der Zentralbahnhof wäre die wichtigste Umsteigestation in Zentraleuropa. Sollte der Kontinent mal politisch vereint sein, wäre Berlin bahntechnisch sein Knoten. Damit durchbricht das Bahnprojekt die Grenzen einer rein verkehrstechnischen Bedeutung. Das wird durch die Nachbarschaft zum neuen Machtzentrum noch unterstrichen. Das Bahnprojekt ebnet damit den Weg, damit Berlin seine Rolle als internationale Drehscheibe ausfüllen kann. Es rückt das Bild vom Nabel der Welt in den Bereich des Faktischen. Ihr ist Berlin bereits heute näher als je zuvor. Sie zur Kenntnis zu nehmen, hat der Insulaner jetzt die Chance.