Der Schock von Bremen ist überwunden

■ In zahlreichen Städten entstehen Siedlungen für Menschen ohne eigenes Auto. Das Potential der Interessenten ist so groß wie die Anzahl autofreier Haushalte. Zunehmend wird die Idee auch in konventionel

Von Bremen ging ein Schock aus, und der saß tief. Denn eine Vision schien plötzlich gescheitert. Auf einer 2,6 Hektar großen Fläche hatte die Stadt 250 Wohnungen für Menschen ohne eigenes Auto bauen wollen. Kein Autolärm vor der Tür, keine Abgase im Schlafzimmer, keine Gefahr für spielende Kinder – faszinierende Aussichten. Und dann kam vor einigen Jahren das Aus. Obwohl es an Interessenten nie gemangelt hatte, fanden sich letztlich nicht genügend Investoren.

Doch man erkannte schnell, daß hier nicht die Idee gescheitert war, sondern einzig und allein das Bremer Projekt Hollerland. Die mangelnde Nachfrage, so analysierte das Dortmunder Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS), habe nicht primär im Ansatz „Wohnen ohne eigenes Auto“ gelegen. Auslöser seien vielmehr „externe Faktoren“ gewesen, konkret die „schlechte wirtschaftliche Lage Bremens und die damit zusammenhängende ungünstige Entwicklung des Immobilienmarktes“. Denn auch das angrenzende konventionelle Wohngebiet habe sich zu diesem Zeitpunkt nicht vermarkten lassen. Das autofreie Wohnprojekt sei „die richtige Idee zur falschen Zeit am falschen Ort“ gewesen, sagt Andrea Dittrich vom ILS heute.

Und trotzdem war Bremen- Hollerland ein wichtiges Modell. Denn das seinerzeit ambitionierteste autofreie Wohngebiet Deutschlands hat bundesweit eine wichtige Diskussion angestoßen. Und es hat, obwohl gescheitert, viele Nachahmer gefunden. So werden zur Zeit in zahlreichen Städten in Deutschland und im Ausland autofreie und autoreduzierte Wohnprojekte realisiert. Schließlich ist das Klientel für diese Wohnform riesig: „Überspitzt gesagt ist das Potential so groß, wie die Anzahl autofreier Haushalte“, sagt Wissenschaftlerin Dittrich. Und davon gibt es in einigen Großstadtbezirken — etwa Köln Mitte – rund 50 Prozent.

Eines der am weitesten fortgeschrittenen Projekte wird derzeit in Freiburg realisiert. Nach fünfjährigen Planungen hat die Stadt im vergangenen Oktober mit der Vermarktung der Grundstücke begonnen. Auf einer Fläche von 1,4 Hektar sollen im Stadtteil Rieselfeld in den kommenden zwei bis drei Jahren 80 bis 90 Wohnungen entstehen, die nur an Interessenten ohne eigenes Auto verkauft werden. „Wir haben lange gebraucht, um eine rechtlich einwandfreie Regelung zu finden“, sagte zum Beginn der Vermarktung der damalige Baubürgermeister Freiburgs, Sven von Ungern-Sternberg (CDU). So sichere die Stadt den Verzicht auf ein eigenes Auto sowohl durch den Bebauungsplan, als auch durch privatrechtliche Kaufverträge ab. Für Bewohner, die sich zu einem späteren Zeitpunkt ein eigenes Auto zulegen wollten, habe man „bewußt hohe Schwellen geschaffen“, weil ansonsten das innovative Konzept verwässert werde.

Die Sicherheit, daß das Gebiet tatsächlich autofrei bleibt, soll durch eine ausgeklügelte Rechtskonstruktion geschaffen werden: Die Immobilienbesitzer kaufen als Gemeinschaft das gesamte Gelände. Damit haben sie die Möglichkeit, eventuelle „Aussteiger“ durch eine Vertragsstrafe abzuschrecken. Von Ungern-Sternberg zeigt sich „sehr optimistisch“, daß das Projekt „auf absehbare Zeit funktionieren“ werde. Schließlich wird der Verzicht auf das Auto hier sehr leicht gemacht: Mit der Straßenbahn fährt man binnen zwölf Minuten in die Innenstadt, Radfahrer werden auf Radwegen ins Zentrum geführt, Car-Sharing- Fahrzeuge werden am Rande des Wohngebiets postiert.

Bereits in Kürze beginnen die Bauarbeiten. Damit liege Freiburg zusammen mit Hamburg an der Spitze in der Bundesrepublik, sagt Willi Loose, Verkehrsexperte am Freiburger Öko-Institut. Loose hebt besonders das familienfreundliche Wohnen auf dem autofreien Gelände hervor. Ein Kindergarten ist am Rande angesiedelt; statt von unwirtlichen Parkplätzen wird die Siedlung von viel Grün beherrscht. Weiterer Pluspunkt: Das Bauen wird billiger. Schließlich spart man jene 30.000 Mark, die in den angrenzenden Wohngebieten für einen Tiefgaragenplatz aufzubringen sind.

Ein ähnlich konsequentes Projekt in dieser Größe gibt es in der Bundesrepublik bislang nur in Hamburg, wo derzeit an der Saarlandstraße die ersten von 200 Wohnungen für Bürger ohne eigenes Auto gebaut werden. Die 63 Wohnungen des ersten Bauabschnittes seien bereits verkauft, sagt Karsten Wagner, Geschäftsführer des Vereins Autofreies Wohnen. Bis zum Jahr 2004 werde das gesamte Projekt fertiggestellt sein. Die Verpflichtung, ohne eigenes Auto zu leben, ist in Hamburg sowohl im Grundstückskaufvertrag als auch im Grundbuch und in den Mietverträgen fixiert. Andere Projekte gibt es in München, Berlin, Hannover, Tübingen, Köln, Münster und Kassel. Sie sind aber entweder deutlich kleiner als jene in Hamburg und Freiburg, weniger konsequent beim Autoverzicht oder in der Planung noch nicht so weit fortgeschritten. Zwei bemerkenswerte autofreie Wohngebiete gibt es in Amsterdam und Wien. In Wien-Floridsdorf sind seit vergangenem Jahr 250 Mietwohnungen auf 1,8 Hektar Fläche in Bau. In Amsterdam sind seit 1996 etwa 600 Wohnungen bezogen, die Hälfte als Mietwohnungen, die anderen als Eigentum.

Diese Siedlungen werden nur der Anfang einer Entwicklung sein, vermutet Andrea Dittrich. Zwar müsse man davon ausgehen, daß die konsequent autofreien Gebiete stets in der Minderheit bleiben werden. Doch zunehmend werde die Idee des autofreien Wohnens auch in konventionelle Wohngebiete hineingetragen – autoreduzierte Gebiete sind die Folge. Die autofreien Gebiete werden damit zu Modellprojekten für modernes Bauen schlechthin: „Car-Sharing und Mobilitätsdienstleistungen durch Baugenossenschaften werden immer mehr an Bedeutung gewinnen“, so Dittrich. Die Stadtplaner würden dieses auch zunehmend erkennen. Nur mit den Wohnungsbaugesellschaften gehe alles „zäher als vermutet“, obwohl gerade Mietwohnungen bei Menschen ohne Auto sehr gefragt sind: „Die Baugesellschaften“, resümiert die Wissenschaftlerin, „müssen oft noch zum Jagen getragen werden.“ Bernward Janzing