Glückliches Deutschland

Demokratie mit kindlichem Antlitz: 150 Kinder und ein Präsident feiern im Schloß Bellevue den 100. Geburtstag von Erich Kästner mit „Pünktchen und Anton“  ■ Von Jörg Magenau

Innerlich nimmt der Staatsbürger unwillkürlich Habachtstellung ein, wenn er das von Sicherheitskräften flankierte Portal des Schlosses Bellevue durchschreitet und die weite Eingangshalle durchquert. Er registriert die Dicke der Teppiche, erkennt ein Heisig-Gemälde an der Wand (darf das da hängen?), prüft den Wert der Empire-Kommoden und wagt kaum, den Tagungsraum mit ernst-ovalem Konferenztisch und verhandlungsschwerer Bestuhlung zu betreten, dessen Flügeltüren doch demonstrativ geöffnet sind.

150 Kinder aber lassen sich von Repräsentationsarchitektur nicht beeindrucken. Die Berliner Sechstkläßler rücken sich in der Garderobe die weißen Kragen zurecht und ziehen noch einmal die Scheitel nach. Dann lärmen sie die Treppe hinauf, am Bildnis Friedrich Wilhelms III. vorbei, den sie keines Blickes würdigen. Kronleuchterimposanz und Blumenbouquetfeierlichkeit ignorieren sie. Und während die Erwachsenen sagen: „Schöne Räumlichkeit“, zappeln sie schon ungeduldig auf ihren 150 Stühlen herum. Können Kinder infantil sein? Nur der Präsident hat Verspätung.

In den Selbstinszenierungen der Macht kommt Kindern stets eine besondere Bedeutung zu. Sie sind Instanzen der Volksnähe und Repräsentanten der besseren Zukunft, auf die doch alle Arbeit zielt. Sie sind Vertreter des Naiven, das doch zumindest ehrlich ist. Sie sind Katalysatoren, an denen Erwachsene ihre Spontaneitätsreste entdecken und verbliebene Emotionsfähigkeit demonstrieren. Herrscher, die sich mit Kindern auf dem Arm präsentieren oder sich hinunterbeugen, um kleine Gesichter zu tätscheln, können keine ganz schlechten Menschen sein. Das ikonographische Gedächtnis erlaubt keinen anderen Schluß; selbst der Führer wirkte, umringt von Kindern, vorübergehend als gütiger Papa: Das Kindchenschema wirkt auch in der Politik.

Ein Staat, dessen Präsident 150 Kinder zum Empfang ins Schloß Bellevue lädt, muß also freundlich und bürgernah sein, locker und unverkrampft: Demokratie mit kindlichem Antlitz. Die Würde der runden Zahl unterstreicht, daß es sich um keinen profanen Kindergeburtstag handelt. Exakt 150 Kinder, soviel Ordnung muß sein. Denn Erich Kästner wird 100, und Caroline Link hat „Pünktchen und Anton“ neu verfilmt. Herzlich willkommen.

Der Nachmittag beginnt ohne den Präsidenten. Termine, Termine. Er ist noch nicht aus München zurück, wo er August Everding beerdigen mußte. Staatsbegräbnis, versteht ihr? Inzwischen liest Bodo Sengebusch, ein Mann mit weißem Spitzbart, aus „Pünktchen und Anton“. Bodo Sengebusch heißt wirklich so und ist keine Kästnerfigur. Er ist Lehrer. 1959 hat er den ersten Vorlesewettbewerb des Börsenvereins gewonnen. Er sagt: „Ich habe Kästner gesehen.“ Und: „Er hatte sehr dichte Augenbrauen.“ In kästnerscher Moraldidaktik hält er das Buch hoch und sagt: „Ich glaube kaum, daß irgend ein Videospiel noch in 70 Jahren verkauft wird, so wie dieses Buch.“ Nicht wahr, Kinder, Literatur ist kostbar. Das wißt ihr doch, oder?

Die Gewinner des 39. Vorlesewettbewerbs heißen Julia Kuhlen und Johannes Köthke. Sie wirken unvermeidlich streberhaft, wie sie da sitzen und vorlesen. Lesen ist irgendwie uncool, das ist ja das Problem. Doch hier ist die Welt noch in Ordnung. Dieser Nachmittag ist eine Demonstration gegen die Agonie der bürgerlichen Kultur. Die Fernsehteams und Radioreporter, von tiefer Sorge über den Niedergang der Buchkultur getrieben, halten eifrig den Kindern Mikros vor die Nase: Was lest ihr denn so? Gefällt euch Kästner? Ein Aufatmen ist zu vernehmen, als Johannes Köthke verspricht, nun auch die anderen Bücher Kästners lesen zu wollen.

Der Präsident kündigt sich durch Hubschrauerknattern an. Kindgerecht landet er direkt vor dem Fenster, steigt aus mit Frau und schwarzem Schirm. Ja, so stellt man sich einen richtigen Präsidenten vor. Jetzt aber zurück auf die Plätze! Großes Gejohle zur Begrüßung: Selten ist ein Präsident sehnsüchtiger erwartet worden. Dieser da, als er dann endlich den Raum betritt, ist sogar lustig und macht Witze. Die Fernsehkameras drängeln sich um ihn, als hätten sie noch nie ein Bild von ihm erhascht. Als die Kinder ihm einen Blumenstrauß überreichen, sagt er: „Die sind wunderschön. Da freu' ich mich sehr. Was zu essen wär' mir aber noch lieber gewesen.“ Dann sitzt er da, umringt von Kindern, und simuliert für die Kameras ein Gespräch, während ein Mitarbeiter der Pressestelle die Namen der beteiligten Kinder für den Bildtext einsammelt: Maya (10) aus Reinickendorf und der elfjährige Kevin aus Neukölln im Meinungsaustausch mit Bundespräsident Herzog. Was aber sagt der Präsident, wenn es nicht darauf ankommt, was er sagt, sondern daß es so aussieht, als ob er etwas sagt? Demokratie ist ganz schön anstrengend.

Caroline Link zeigt Ausschnitte aus ihrem neuen Film. Pünktchen und Anton sind in die 90er Jahre verfrachtet worden, kaufen jetzt im Supermarkt ein, und überhaupt ist alles nicht mehr so schlimm. Armut gibt es nur noch als Randphänomen des Wohlstands. Pünktchens Mutter ist nur noch ein bißchen krank, um den gegenwärtigen Kindern nicht zu viel an gesellschaftlicher Problematik zuzumuten. Außerdem ist sie nicht mehr Putzfrau, sondern Akrobatin, weil Meret Becker so hübsch mit dem Hula-Hoop-Reifen umgehen kann und das in Filmen immer gut aussieht. Der Dackel Pieffke wird dafür gestrichen, kein Platz im Drehbuch. Und was am schlimmsten ist: Die Geschichte spielt in München. Als könnte Kästner jemals Bayer werden und Pünktchen „a bissl“ sagen. Als seien Schiffbauerdamm und Weidendammer Brücke verzichtbar. Aber so ist das in der Berliner Republik: Anything goes, und die Münchner Filmstudios machen sich einen föderalen Kästner zurecht.

Dem Präsidenten gefällt's. So nette Kinder! Hilfsbereit, sauber und freundlich. Nachdem sie Filmausschnitte über die Herstellung des Films gesehen haben, sind sie endgültig so weit, daß sie brav in die O-Ton-sammelnden Mikrophone sprechen, selbst auch einmal Schauspieler werden zu wollen. „Ich bin ja auch ein bißchen wie Pünktchen. Ich bin auch so frech.“ Und wie alt bist du? Und wie heißt du? Und liest du auch Bücher? Ach Deutschland, glückliches Land!

„Hat's euch gefallen?“ ruft der Präsident. „Jaa!“ rufen die Kinder. Dann ist der Präsident schon wieder weg. Termine, Termine. Einem unabschüttelbaren Reporter sagt er noch, daß „wir damals alles gelesen haben, was wir kriegen konnten“. Weil es ja eine andere Zeit war. Der Stehempfang findet ohne ihn statt, und es wäre ja auch nichts gewesen für ihn, tiefgelegt auf Kniehöhe zu speisen. Auf den Tellern liegen Negerkuß, Waffel und Weingummi. Die Servierdamen haben winzige Hamburger wie aus der Puppenküche auf ihren Tabletts. Die Erwachsenen greifen zu Wiener Würstchen und sehen ein bißchen albern aus, wie sie daran knabbern. Aber man darf ja auch mal ein bißchen kindisch sein.