■ Demokratische Gesinnung oder friedenspolitische Verantwortung?
: Das Dilemma der israelischen Linken

Was in Israel als „links“ gilt, bemißt sich weder an der Stellung zur Einkommensgerechtigkeit noch zur Frauenemanzipation. Als „links“ gilt, wer bereit ist, einen Rückzug aus den besetzten Gebieten hinzunehmen. Gemessen daran hat der linksliberale israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, der Sache des Friedens einen Bärendienst erwiesen.

Um das zu verstehen, muß man sich auf die Welt der etwa 20 Prozent (ultra-)orthodox wählenden jüdischen Bürger Israels einlassen. Hier konkurrieren vier Parteien miteinander: die zionistischen Nationalreligiösen, für die die Eroberung des Landes Israel einem messianischen Wink gleichkommt; die ultraorthodoxe, bis in die letzten Jahre nichtzionistische Agudat Jissrael, die die Gründung des Staates im Grundsatz ablehnte, sich aber in dem Ausmaß mit ihm versöhnt hat, als er ihre Interessen – etwa Militärfreistellung von Talmud-Studenten – bedient; hinzu kommt die kleine Degel ha Tora (Banner der Tora).

Als größte Partei fungiert die von Primor angegriffene Schas, die sich von den anderen durch ihren ethnischen Kern unterscheidet: sie ist wesentlich Klientelpartei der von den aschkenasischen, arbeiteraristokratischen Eliten jahrzehntelang verächtlich behandelten Mehrheit orientalischer Juden. Alle religiösen Parteien – mit Ausnahme vielleicht der Nationalreligiösen – sind insoweit undemokratisch, als ihre Parlamentarier einem imperativen Mandat unterliegen: sie machen, was die Rabbiner-Räte vorschreiben.

Innerhalb der Orthodoxie ist die Stellung Israels in seiner religiösen Bedeutung umstritten. Dort zu leben ist eine gottgefällige Tat. Allerdings: das talmudische Recht kennt ein Prinzip, um dessentwillen alle anderen Weisungen durchbrochen werden dürfen: die Rettung von Menschenleben, etwa von Soldaten der Besatzungsarmee. Der orientalische Oberrabbiner von Israel, Obadja Jossef, hat mehrfach angedeutet, daß er deshalb einen Rückzug hinnehmen würde.

Wer einmal gesehen hat, mit welcher Hingabe die orthodoxen Führer Jossefs beringte Hand küssen, wird sich eines Unbehagens nicht erwehren können. Gleichwohl: Der Widerspruch zwischen dem Willen zu mehr Demokratie und dem Wunsch nach Frieden ist mittelfristig nicht zu beheben. Ohne Koalition mit mindestens einer religiösen Partei kann in Israel keine Regierung gebildet werden. Daß die Kritik an Primors undiplomatischer Art, eine demokratisch gewählte Parlamentspartei vom Ausland her zu kritisieren, glimpflich ausging, läßt hoffen. Im Verzicht auf seine Abberufung wird deutlich, daß das Lager der Vernunftspazifisten in Israel größer ist als gedacht. Micha Brumlik